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Ein weites Feld

Ein weites Feld

Titel: Ein weites Feld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Günter Grass
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keine Sondergenehmigung erteilt. Hatte im Frühling vierundvierzig sogar Nimes und die Rhônemündung im Blick. Aber Berlin war dagegen …« Zwischen Dienstreise und Dienstreise galt es, im Reichsluftfahrtministerium neue Marschbefehle zu empfangen. Mal um Mal sah sich der junge Soldat vor das »kolossale« Portal gestellt. Später durfte er ein Bürofräulein namens Emilie Hering über den Ehrenhof in den Kolossalbau führen und seinem Vorgesetzten, einem Oberst von Maltzahn, bekannt machen: »Gestatten, Herr Oberst, meine Verlobte!« Doch wenn sich der alte und zivile Wuttke, der noch kürzlich als Fonty auf doppelte Weise Geburtstag gefeiert hatte, in Erinnerungen erging, sagte er, sobald er mit Hoftaller vor dem Haus der Ministerien und dessen sich treu gebliebenem Portal stand: »Daß Scheußlichkeiten wie diese von einer gewissen Unsterblichkeit sind, macht mir jeglichen Lorbeer fraglich. Wäre doch alles ein paar Nummern kleiner!« Schon vor der untersten Treppenstufe zog Hoftaller den Hut, während Fonty bis hinter die Flügeltüren bedeckt blieb.
    Wir bedauern: Die Innenansicht des Gebäudes entlang der Otto-Grotewohl-Straße muß bis zur Phase der nächsten Nutzung undeutlich bleiben. Erst später und renoviert dürfen dessen Zimmerfluchten zu Glanz kommen. Noch sah alles schäbig aus. Blind, weil nicht aufpoliert, faßte verschieden getönter Marmor die Türen zu den Diensträumen von zehn Ministerien ein, die den einzelnen Industriesparten übergeordnet waren. Unansehnlich gewordene Teppichböden deckten den ursprünglichen Linoleumbelag der Korridore ab. Vierzig Jahre lang hatte der Arbeiter- und Bauern-Staat hier seine Mangelwirtschaft verwaltet. In Planungskollektiven waren Fünfjahrespläne ausgeheckt, nach Nichterfüllung geschönt und von neuen Planzahlen überfordert worden. Dabei hatten sich Aktenvorgänge ergeben, die ihr Innenleben in ungezählten Ordnern führten; unter diesen Aktenordnern waren solche, die neuerdings nach Einsicht verlangten: auf schnellstem Wege. Und schon kommt wieder Fonty ins Spiel. Theo Wuttke trug aus. Als Aktenbote schleppte er einen Stoß Ordner von Abteilung zu Abteilung. Er war zwischen den Ministerien tätig. Und da er diese Arbeit, dank Hoftallers Fürsorge, gefunden hatte und hier seit Ende der siebziger Jahre auf allen Korridoren unterwegs war, stellt sich die Frage nach dem Personenverkehr zwischen Stockwerk und Stockwerk. Sogleich rückt ein Transportmittel ins Blickfeld, das seit Anbeginn in Betrieb war. Wir stellen uns den Aktenboten Theo Wuttke in einem nach vorne offenen Aufzug vor, der in zwei Fahrtrichtungen aus einer Vielzahl von Kabinen gereiht ist und unablässig, das heißt über die Wendepunkte im Keller- und Dachgeschoß hinweg, auf und ab fährt, ohne Halt, leicht klappernd, nicht ohne verhaltenes Gestöhne und Seufzen, aber doch zuverlässig, sagen wir ruhig »gebetsmühlenhaft«; weshalb man diesen altmodischen, inzwischen – trotz aller wohlmeinenden Proteste – fast überall ausgemusterten Personenaufzug »Paternoster« genannt hat. Und in solch einem Paternoster ging Fonty im Haus der Ministerien seiner Halbtagsarbeit nach. Trotz hohen Alters hielt man an ihm, dank Sondergenehmigung, fest. Mit Akten beladen fuhr er von Stockwerk zu Stockwerk. Niemand sonst schien mit allen zehn Ministerien so rastlos tätig vertraut zu sein. Er stieg aus der Tiefe auf, wurde in halber, dann in ganzer Person sichtbar, verschwand nach oben geköpft, halbiert, zeigte nur noch die hohen Schnürschuhe vor, war wie entschwunden, bestand aber darauf, ein Stockwerk höher in gleichbleibender Gestalt, weißhaarig, mit fusselndem Schnauz, sodann als Brustbild, schließlich nach halber in ganzer Figur einen Augenblick lang da zu sein; oder er kam mit den Schnürschuhen voran von oben herab, trug halb-, dann ganzfigürlich einen Stoß Aktenordner vor der Brust umklammert, zeigte, wie zum Abschied, sein uns vertrautes Gesicht, war nun ganz und gar weg, um ein Stockwerk tiefer wieder langsam ins Bild zu kommen und – falls im dritten Stock Akten abzuliefern und zu holen waren - mit den umklammerten Ordnern auszusteigen. Und so stellen wir uns Fontys Abgänge vor: Sobald die Bodenplatte der Paternosterkabine in etwa dem Korridorniveau angeglichen war, verließ er mit kleinem Sprung die Kabine, um jugendlichen Schrittes und in Kenntnis der Lage aller Diensträume seinen Weg als Aktenbote zu nehmen. Ihn schienen die Korridore nicht zu ermüden. Ein Schrittzähler am Bein

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