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Ein weites Feld

Ein weites Feld

Titel: Ein weites Feld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Günter Grass
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Greisenhaupt glühte und die weißen Fusselhaare loderten. Ja, sein Blick war von innerem Feuer erhellt; kein Wunder nach so flammender Rede.
Als die Enkeltochter zum Stehpult ging und ihren Großvater bei der Hand nahm, hielten wir uns zurück, doch hörte ich, wie sie mit kleiner Stimme sagte: »Excellent, grand-père, vraiment excellent. Doch nun müssen wir leider gehen. Man wird Sie verdächtigen. Ich weiß, es ist alles Erfindung nur, wie die Kirche in Tempelhof oder Schloß Wuthenow. Dennoch sollten wir eilig weg, bevor man uns sucht …«
Ich sah, wie Madeleine das Manuskript und den Briefumschlag samt Honorar in ihren Umhängebeutel stopfte, Fonty vom Pult wegzog, sich und ihn geschickt zwischen die restliche Menge mischte und mit ihrem Großvater durch den seitlichen Notausgang verschwand.
Der Strauß Feuerlilien, deren Friedhofsgeruch Fonty ohnehin nicht ausstehen konnte, blieb auf dem Stehpult liegen. Wir nahmen ihn an uns, stellvertretend. Als alle gegangen waren, war nur noch ich übrig. Ich suchte und suchte …
Endlich, er irrte draußen bei schwacher Beleuchtung herum. Zwischen Kesselhaus und ehemaligem Pferdestall fand ich ihn, in eine Nische gedrückt. Als er mich sah, griff er zu, ließ nicht los: »Habt ihr ihn?«
Ich redete etwas von »kleinem Umtrunk mit der Geschäftsleitung« und wiegelte ab:
»Unser Freund wirkte erschöpft, braucht Ruhe. Auch Sie sollten schonungsvoller …«
Der verwaiste Tagundnachtschatten war nicht zu beschwichtigen: »Bestimmt hat die Kleine ihn abgeschleppt.
    Ist ja nicht falsch im Prinzip, denn unbedingt muß er in Sicherheit gebracht … Und zwar sofort. Bestimmt läuft die Fahndung schon …«
    Ich warnte vor Übertreibungen: »Also ein besseres Alibi kann man wirklich nicht haben …«
    »Ach was! Das Archiv spielt mal wieder den Ahnungslosen. Aber ich hab gerochen, was kommt, als er das Manuskript wegschob und nur noch freiweg … Das war schon immer so, wenn er … Kaum hat er sich mit nein Trick – ›Übrigens, was ich noch sagen wollte …‹ – vom Text weggeredet, kommt er zur Sache. Roß und Reiter nennen heißt das bei ihm. Und nun tickt die Uhr. Alibi! Nie was von Fernzündung gehört? Muß ihn finden … Unbedingt …« Er ließ von mir ab. Also ging ich, ging zögernd, drehte mich um, immer wieder. Er stand verloren, nun ganz mit sich allein auf dem weitläufigen Innenhof der ehemaligen Schultheiß-Brauerei. Im Schatten des burgtorgroßen Ausgangs blieb ich stehen und sah ihn auf und ab laufen. Mal näher, mal entfernt. Die spärliche Bogenlampenbeleuchtung zog ihn an, spuckte ihn aus, bloßgestellt war er da, wieder weg, aber seine Stimme blieb. Er redete vor sich hin. Einiges schnappte ich auf: »Sah sie im Publikum … Rechter Block, dritte Reihe von hinten … Ne Ausgekochte … Dieses Aas … Klar doch, die Blumentopffrau … War ihr Profil, bin sicher … Die Genossin Frühauf … Kein Verlaß … War immer schon krankhaft labil … Werden untertauchen bei ihr … Denn das müssen sie: irgendwo untertauchen …« Hoftaller schien aus dem Lot. Plötzlich schrie er, daß es im Innenhof hallte: »Aber ich will nicht mehr, will nicht mehr … Immer nur Außendienst, Außendienst … Bin schon abgemeldet, abgemeldet … Werde ganz woanders, woanders …« Dann sah ich ihn nicht mehr, hörte nur noch im Weggehen, daß jemand, wahrscheinlich ein Betrunkener, irgendwo verdeckt von den Nachtschatten der Zinnen und Türmchen des Backsteingemäuers, etwa dort, wo der Brauereischornstein aufragte, revolutionär zu singen begann: »Ca ira, ca ira – Ca ira, ca ira …«

37 Mit ein wenig Glück
    Am Morgen besehen, sah alles anders aus. Die Treuhand war nicht abgebrannt, doch immerhin hatte Feueralarm am Abend des Vortags, gegen 21 Uhr 30, mehrere Löschzüge zum Einsatz gerufen. In dem Gebäude Ecke Wilhelm-, Leipziger Straße mußte ein alle Stockwerke verqualmender, aber leicht zu lokalisierender Brand eingedämmt, schließlich erstickt werden. Kurz vor 23 Uhr war alles vorbei; dennoch blieb eine Wache im Haus.
    Der Paternoster hatte Feuer gefangen. Weil auch nachts in Betrieb, war es dem umund umlaufenden Brand gelungen, die meisten Kabinen zu erfassen und auszuglühen, der Rest galt als mehr oder weniger stark angekokelt. Man konnte von einem Totalschaden sprechen, was den offenen Kabinenaufzug betraf; die Treuhand selbst kam mit dem Schrecken davon. Sogleich wurde von Brandstiftung gemunkelt; Gründe genug hatte die Abwicklungszentrale geboten. Trotz

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