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Ein weites Feld

Ein weites Feld

Titel: Ein weites Feld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Günter Grass
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uns gegenüber ging Fonty nicht ins Detail, wenn wir nach dem Verbleib der Briefe fragten. Als wäre ihm noch immer seine Sofaecke verordnet, flüchtete er ins Allgemeine: »Lauter Unsinn! Was man briefverborgen schreibt, darf nicht zählen. Meine Episteln an Emilie aus überlanger Verlobungszeit sind gleichfalls futsch. Wurden allesamt verbrannt. Nicht schade drum. War sowieso alles unerlaubt unbedeutend. Na, weil Liebesbriefe in der Regel Ablage für Allgemeinplätze sind. Viel ausgeborgte Zärtlichkeit. Und die Zitate nach Lenau und Platen wie aufgenähte Hosenknöpfe. Sicher, Eigenes kam auch vor. Das floß nur so. Hatte ja eine leichte Hand und ein beständiges Sehnen. War mit dem Herzen dabei …« Weil uns der Hunger nach den geheimgehaltenen Briefen des Unsterblichen oft bis zum Äußersten trieb, haben wir Fonty aus archivalischer Hemmungslosigkeit regelrecht verhört. Nachhaken! Stochern! Nur nicht lockerlassen. Als Verhörende mögen wir seinem Tagundnachtschatten ähnlich gewesen sein, jedenfalls lief unsere einzige Sorge auf die Befürchtung hinaus, Hoftaller könnte auf die Idee kommen, den Fall »Dresden und die Folgen« nach seiner Methode abzuschließen, denn als beide in ihren Sofaecken saßen, hat er zum übersüßen Rotwein noch süßere Verheißungen tröpfeln lassen. Wir ahnten, welche Gefahr den siebenunddreißig Briefen, unserer Archivlücke, drohte. Fonty schockierte uns mit dem Eingeständnis, Hoftaller habe eine Kunstpause eingelegt, sich aus der Sofaecke vorgebeugt und seine Stimme mit Wohlwollen gesalbt: »Selbst wir sind der Meinung: Genug ist genug. Dresden soll keine Folgen mehr haben. Nicht nur das Bündel heißblütiger Briefe und beigelegter Gedichte, auch alle Zahlungsanweisungen, jeglichen Behördenkram, alles, was andeutungsweise nach Alimenten riecht, sogar unsere Protokolle bringen wir zum Schweigen, indem wir zwar nicht das tun, was Ihre arme Effi, dieses Dummerchen, mit den Crampas-Briefen hätte tun sollen und was Ihr überängstlicher Botho mit den Lene-Briefen tat, nein, wir verbrennen sie nicht, wir entsorgen sie auf nahestehende Weise: Alles, jeder Seufzer, jeder Herzenserguß, jede gereimte Beteuerung, wird ritschratsch zerrissen, zerfetzt und verschwindet in diesem Sofa, in dessen Tiefe sich des Poeten und Jungapothekers Briefschnipsel getrost mit vieltausend anders geschwätzigen Schnipseln, die schon entsorgt wurden, vermischen und – von mir aus – begatten dürfen …«
Hiermit steht fest: Kein Notheizungsofen war im Spiel. Das Sofa war nicht im Keller zu finden. Wir betreten den Paternoster und steigen zum Labyrinth des Dachbodens auf, der sich über dem teils vier-, teils siebenstöckigen Gebäude hinzieht. Und dort, im siebengeschossigen Seitenflügel, entlang der Leipziger Straße, sehen wir das Sofa: einfach abgestellt, aus welchen Gründen auch immer. Aber genau besehen war das Dachbodenmöbel nicht mehr abgrundtief durchgesessen, sondern wohl gepolstert, weil mit zerfitzelten Papieren vollgestopft, die als geheim gegolten hatten. Wie wir inzwischen wissen, entstammten viele Aktenvorgänge dem Haus der Ministerien, doch hatte die Zentralstelle Normannenstraße beim Stopfen und Nudeln nicht gegeizt; nach Fontys Worten hätte eine pommersche Gans kaum nachdrücklicher gemästet werden können, so satt war das Sofa an Geheimnis. Hoftallers Werk. Sagen wir lieber: Hoftallers und Fontys Gemeinschaftswerk. Beide haben als Reißwölfe Akten per Hand zerschreddert, die Schnipsel durch Löcher ins ohnehin löcherige Unterfutter gestopft und mit Fingern und Fontys Wanderstock dem Sofa nach und nach zu straffer Polsterung verholfen. Seit Mitte Januar waren sie fleißig. So über Wochen hinweg. Und so an jenem Nachmittag, Ende März, als Hoftaller die Flasche Rotwein, die Pappbecher und den Korkenzieher aus der Tasche gezaubert hatte. Erst nach getaner Arbeit und nachdem sie einen Stoß Personalakten, einige verdeckte Gehaltslisten, etliche Kontaktprotokolle und wohl auch ein Bündel westöstliche Korrespondenz zerkleinert, durch sieben Löcher getrieben und bis in die entlegensten Hohlräume der Polsterung verteilt hatten, lud Hoftaller zum Umtrunk ein. »Sowas macht durstig!« rief er. Fonty sah sich genötigt, nach einem zweiten einen dritten Pappbecher zu leeren. Zum vierten Mal wurde ihm eingegossen. Folgsam nahm er mit kleinen Schlucken die Übersüße des Weins wie eine Strafe auf sich. Er ließ sich abfüllen, und dabei zählte der Gastgeber, der nur

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