Ein weites Feld
daß es dem Greis gelang, rechtzeitig vom Polster hochzukommen und sich irgendwo abseits zu entleeren, zwischen Gerümpel etwa: Über Transparente, die vom letzten Ersten Mai geblieben waren und noch immer zur Solidarität aufriefen, hätte er sich erbrechen und so gründlich auskotzen können, bis nichts mehr gekommen wäre.
Hoftaller half Fonty, der sich im Paternoster nur mühsam aufrecht hielt, vom Dachboden ins Erdgeschoß, dann, schnurstracks an der Anmeldung vorbei, unter das kolossale Portal und endlich ins Freie.
Draußen dunkelte es. Kein Regen, doch unter tiefhängenden Wolken drückte feuchte Luft. Süßlich und gasig bitter roch es nach Braunkohlefeuerung, dem untergehenden Staatswesen. Der Aktenbote Theo Wuttke atmete schwer, wollte aber nicht gestützt werden, sondern ganz allein über den Ehrenhof. In dem ausgestanzten Viereck hallte jedes zu laute Wort: »Loslassen, Tallhover! Was noch, Hoftaller, was noch? Zur Hölle mit Ihren operativen Vorgängen! Zum Teufel mit Ihren Harmlosigkeitsallüren, Herr Polizeirat Reiff!« Aber sein Tagundnachtschatten blieb ihm zur Seite. Es sah so aus, als gehörten sie auf ewig zusammen. Kein literarischer Trick konnte sie trennen. Uns verwunderte diese weit über hundertjährige Praxis nicht, sagte doch schon in »L’Adultera« der pleite gegangene Bankier Rubehn zu seiner geliebten Melanie: »Vor dieser Spezies muß man doppelt auf der Hut sein. Ihr bester Freund, der leibliche Bruder ist nie sicher vor ihnen …«
6 Zwischen Enten ein Haubentaucher
Vom »Genossen Fonty« hätte selbst im Scherz nicht die Rede sein können; und weil er nie jemand mit Parteibuch gewesen ist, legte er Wert darauf, als »Herr« angesprochen zu werden. Nicht selten sind ihm flapsige Anreden wie »Hallo, Fonty, wie geht’s« ärgerlich aufgestoßen: »Für Sie, junger Mann, immer noch Herr Wuttke.«
Sein bürgerlicher Name schützte ihn, und gerne betonte er den weit übers Rentenalter hinaus tätigen Aktenboten, dessen Leistungen häufig erwähnt und in zurückliegenden Jahren sogar am Schwarzen Brett gelobt worden waren; ob beim Kulturbund oder im Haus der Ministerien: Theo Wuttke galt als Aktivist. Mit mürrischer Lust behauptete er, dem Arbeiter- und Bauern-Staat von Anbeginn als loyaler Bürger verpflichtet gewesen zu sein. Aber einzig als Theo Wuttke zu gelten war so schwer, wie es ihm leichtfiel, uns alle als Fonty zu überzeugen. Er war beides. Und in zwiefacher Gestalt hing er am Haken. Wir, die ihn zappeln sahen, ahnten anfangs nur, was uns später zur Gewißheit wurde: Zu viele Aktenvorgänge belasteten seine verlängerte Existenz zugleich. Und weil jeder Vorgang gewichtig genug war, ihn im Verlauf der Zeit unter mehr oder weniger durchlässige Aufsicht zu stellen, hatte das gesamte Papierbündel andauernde Beschattung zur Folge. Gründe genug gab es, ihm eine Person zuzuordnen, die, wie Theo Wuttke, nicht nur von heute war: Zwei Immortellenkränze wären zu vergeben, sogar ein dritter, denn uns erging es kaum besser; nichts ist unsterblicher als ein Archiv. So ängstlich wir versucht haben, Hoftaller zu meiden, Wegducken half nicht: Mit Fonty saßen wir in der Falle, wie ihm war dem archivierenden Kollektiv der Name des Unsterblichen vorgeschrieben; doch uns hat jahrzehntelang ein Gutachten geschützt, nach dessen Befund wir als nur sekundär und obendrein harmlos einzustufen waren. Hoftaller nahm das Archiv nicht ernst. Er belächelte die Lücken in unserer Kartei, sah Fonty weiterhin als Objekt und hat sich wohl deshalb geweigert, seinem Biographen, der ihn nach über hundert Dienstjahren auslöschen wollte, Gehorsam zu leisten. Hätte er sich, dem biographischen Aufruf folgend -»Genossen! Kommt! Helft mir!« –, durch Selbstjustiz unters Fallbeil gebracht, wäre mit Fonty auch uns geholfen gewesen. Wir hätten uns freier, ein wenig freier entfalten können. Ab 13. Februar 1955 wäre dem Archiv von Staats wegen Ruhe gegönnt worden. Und mit dem Fall »Tallhover, Ludwig, geboren am dreiundzwanzigsten März Achtzehnhundertneunzehn, ehemaliger Mitarbeiter der Dienste«, hätte der Fall Fonty ad acta gelegt werden können. Oder wäre dieser nur literarisch schlüssige Tod kein Anlaß zur Freude gewesen? Hätte es Gründe gegeben, Tallhovers Tod zu betrauern? Ließe sich ausdenken, daß es Fonty war, der gegen den Schluß der Biographie auf Seite 283 protestiert und deren Fortsetzung – und sei es von uns -gefordert hat, weil er sich nach so langer Fürsorge einsam,
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