Ein weites Feld
rückhaltlos und ohne Tagundnachtschatten sozusagen schlemihlhaft vorgekommen wäre? Fragen, auf die Tatsachen Antwort gegeben haben. Fonty stand weiterhin unter Zwang. Er hing am Haken. Und wir, die im Archiv wie unter Hausarrest saßen, sahen ihn zappeln.
Dennoch waren dem Aktenboten Theo Wuttke kleine Ausbrüche in die Freiheit möglich. Immer wieder konnte er sich von seinem Schrittmacher und Aufpasser, dem Stachel und Widerhaken in seinem Gedächtnis lösen. Jedenfalls glaubte er, daß ihm nach Dienstschluß tagundnachtschattenlose Alleingänge freistanden. Vor dem Mauerfall hatte ihm der Volkspark Friedrichshain Auslauf geboten; nun aber überquerte er, ohne lange Anlauf nehmen zu müssen, den Potsdamer Platz, auf dessen abgeräumter Fläche, nicht erst seit ausbrechendem Frühling, grelle Spekulationen blühten. Danach bummelte er von Schaufenster zu Schaufenster die westliche Potsdamer Straße hoch bis hin zur kläglich übriggebliebenen Hausnummer 134 C, um von dort aus trotz undurchlässiger Verkehrsdichte Rückschau auf romanträchtige Mansardenfron zu halten; oder er folgte vom Potsdamer Platz aus anderer Gewohnheit, immer wieder abzweigenden Spazierwegen, die der Tiergarten – sei es zum Goldfischteich oder zur Amazone, sei es am Uferweg, der Rousseau-Insel gegenüber – mit Ruhebänken zu bieten hatte.
Natürlich ging er mit Stock. Jugendlich, wie überliefert, schritt er aus. Und wenn er saß, lag der Wanderstock neben ihm.
Meistens saß Fonty für sich, mehr beurlaubt denn aus freien Stücken allein. Waren ihm Fristen eingeräumt worden? Hat er diese Alleingänge seinem Tagundnachtschatten abtrotzen müssen? Oder kann es sein, daß Hoftaller aus pädagogischen Gründen nachgab und ihm abrupte, oft mitten im Satz vollzogene Kehrtwendungen – »Gesellschaft ist gut, Einsamkeit besser!« - ohne Bedingung erlaubt hat, weil sich Fonty nur so an die neue, dem Westen eigentümliche Freiheit gewöhnen konnte? Ihre Trennungen auf Zeit fanden zumeist gleich nach Dienstschluß an Straßenecken statt, zum Beispiel Ecke Otto-Grotewohl-, Leipziger Straße. Hoftaller wollte geradewegs weiter, Fonty bog links ab. Nach kurzem Gruß »Bis morgen dann« scherte er aus. Hoftaller blieb stehen, bestätigte: »Na klar, bis morgen.« Er sah seinem Schützling und dessen wehendem Shawl eine Weile lang nach, setzte den Weg dann fort; indessen entfernte sich Fonty.
Hier müssen wir einräumen, daß beide gelegentlich einem altersbedingten Drang nachgaben, so auch, als sie sich trennten. Dieser und jener ging zwischen Schritt und Schritt furzend in eine Richtung, die er für seine hielt, der eine mit dem ausholenden Schritt des ewigen Jünglings und mit regelmäßig auftrumpfendem Stock, der andere schnellfüßig tippelnd. Bei wachsender Entfernung blieben sie einander dennoch sicher. Spätestens am nächsten Tag waren sie wieder vereint, sobald Hoftaller im Paternoster zustieg, denn an gemeinsamer Arbeit fehlte es nicht. Von Stockwerk zu Stockwerk war der Aktenbote Theo Wuttke im Haus der Ministerien gefordert und bis hoch zum Dachgeschoß, wo das Sofa stand, immer gefällig und ansprechbar: »Werden dringend gebraucht, Fonty. Zimmer 718, Abteilung Transportwesen, wartet schon lange, und auch bei der Personalabteilung stapeln sich einige Vorgänge …« Nur auf Tiergartenbänken war er allein. Selbst wenn sich ein Rentner neben ihn setzte und beide einander Altersgebrechen aufzählten oder ihre Ärzte als Stümper beschimpften, blieb ihm Einsamkeit sicher: So gutgelaunt er mit »wiederholter Nervenpleite« auf »chronisches Asthmaleiden« antwortete, alles Geplapper lief obenhin, und nie wurden seine Hintergründe befragt. Die zu einem großräumigen Garten gezähmte Natur half ihm, selbst in Gesellschaft allein zu sein; doch nicht nur deshalb liebte Fonty den Tiergarten. Wir werden sehen, daß er in dieser Kunstlandschaft von Anbeginn unverkennbar gewesen ist.
Nachdem sich Theo Wuttke von seiner scherzhaft »Schutzengel« genannten Aufsicht getrennt und den Aktenboten wie ein Rollenkostüm abgelegt hatte, war er, wie schon den April über, nun bei schönstem Maiwetter unterwegs. Abgesehen von einer gerollten, in rechter Manteltasche steckenden Tageszeitung, glich er mit Hut und Stock einer Karikatur, die seinen Vorgänger zum Motiv gehabt und dessen Eigenart dergestalt treffend wiedergegeben hatte, daß sie gut zwanzig Jahre nach dem amtlichen Tod des Unsterblichen im »Simplicissimus« wie eine Novität abgedruckt
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