Ein weites Feld
Leipziger und Dresdner Zeit war einzig Wolfsohn dabei. Als nach drei Jahrzehnten in der Potsdamer Straße 134 c das runde Datum gefeiert werden wollte, hieß es in einem der alles ausplaudernden Briefe: »Nur wenige Freunde nahmen Anteil an unserem mittlerweile ›Dreißigjährigen Krieg‹ …« Doch Fonty sah von seiner Lieblingsbank aus nicht nur Familie kommen und gehen. Er sah Lepel an seiner Seite, sah Storm und Zöllner, traf zufällig Heyse und Spielhagen, schwadronierte mit Ludwig Pietsch; später, viel später saß er mit Schlenther und Brahm auf einer Bank: endloser Theaterklatsch. Zu wechselnden Jahreszeiten erlebte er sich zwischen und nach drei Feldzügen, die bald Einigungskriege genannt wurden, von wechselnden Manuskripten beschwert, die jeweils Schlacht- und Landschaftsbeschreibungen zum Inhalt hatten; eine langjährige Plackerei, die nichts außer Ärger einbrachte und deren unablässiges Wortgetümmel er dennoch in den Tiergarten schleppte, um es, ein wenig verschlimmbessert, wieder nach Haus und in wechselnde Wohnungen zu tragen. Erst als er den Akademiekrempel hinter sich hatte und endlich, doch zu Emilies Leid, ein freier Schriftsteller war, sah er sich mit anderem Gepäck unterwegs: Leichthin geplauderte Romandialoge trug der Unsterbliche als Tiergartenausbeute hoch ins Mansardenloch der Potsdamer Straße, nun ein betagter Anfänger, um die Sechzig, dann auf die Siebzig zu und drüber weg. »Vor dem Sturm« wurde hier ausgetragen. Was an Novellen und Romanen unfertig im Kasten lag, tickte auf Spazierwegen weiter: »Bin für Überschriften, das heißt, auch im Leben für Ruhepunkte; Parks ohne Bänke können mir gestohlen bleiben …« Doch als die Familie sagte: »Überschriften sind altmodisch«, schlug er seinem Verleger für alle »L’Adultera«-Kapitel Zahlen vor; aber es blieb bei den Überschriften. Und als nach »Grete Minde« und »Ellernklipp« Kritik an zu vielen »und’s« aufkam, hielt er dagegen: »… bilde mir ein, ein Stilist zu sein, der seinen Stil aus der Sache nimmt, die er behandelt, und so ist es mit den vielen ›und’s‹ …« Und so bis zuletzt. Kaum hatte »Effi Briest«, vorabgedruckt, ihr trauriges Ende gefunden, war er schon mit dem alten Stechlin unterwegs: im Überrock und mit Stock und Hut, zielstrebig von der Hausnummer 134 c aus in Richtung Königin-LuiseBrücke, immer mit Rex und Czako im Gespräch, immer scharf auf Pointen, wiederholt Gundermanns »Wasser auf die Mühlen der Sozialdemokratie« gießend, abermals vor der »großen Generalweltanbrennung« warnend und die Domina Adelheid im Kloster Wutz mit spitzen Worten reizend, die ihrem Bruder Dubslav, dem alten Stechlin, heimzahlt: »Sage nichts Französisches. Das verdrießt mich immer.« Und dann lange nichts mehr. Friedhofsruhe. Die Denkmäler. Der vom Sohn für lumpige achttausend Reichsmark verscherbelte Nachlaß. Ihm nachplappernder Professorenfleiß. Von ihm beschimpfte Pedanten: »Lederne Fachsimpler, sie sollten fördern und verwüsten alles …« Den einen war er zu preußisch, den anderen nicht preußisch genug. Jeder schnitt sich das passende Stück heraus: mal hübsch zum »Wanderer durch die Mark« gestutzt, mal aufs »Heitere Darüberstehn« verkürzt, mal als Balladendichter gefeiert, mal als Revolutionär wiederentdeckt oder parteilich gestrichen. Schulen wurden nach ihm benannt, sogar Apotheken. Und weiterer Mißbrauch. Schon war er in Schulbüchern abgetan, schon galt er als verstaubt, schon drohte Vergessen, als endlich dieser junge Mann in Luftwaffenblau aufkreuzte, sich allein oder in Begleitung auf die besondere Tiergartenbank setzte und ihn, immer nur ihn, einzig den »Unsterblichen« im Munde führte.
Heißt Wuttke und Theo dazu. Kommt aus Neuruppin und zeigt sein Geburtsdatum, den 30. Dezember 1919, als Ausweis vor. Hat seiner Verlobten, Emmi Hering, die die Haare hochgekämmt trägt und im kleingeblümten Kleid zur Fülle neigt, Altes und Neues aus Frankreich zu berichten. Anfangs nur Gravelotte und Sedan, dann aber Schlag auf Schlag: Blitzsiege, Umfassungsschlachten, Guderians Panzer, Lufthoheit bis zu den Pyrenäen, Sedan und Metz diesmal fast kampflos gefallen, über die Marne weg, Paris, Paris! Und dann die Fernsicht von der Atlantikküste über normannische und bretonische Ebbestrände nach England rüber, zum feindlichen Vetter. Und Frankreichs Küste vorgelagert die Inseln, zu denen Oléron zählt und besonders ist: viele stimmungsvolle Berichte. Denn immer wieder
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