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Ein weites Feld

Ein weites Feld

Titel: Ein weites Feld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Günter Grass
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Landschaftspark so ungekränkt in Schönheit verharren, wie er ihm immer schon Augenweide und Zuflucht gewesen war; da wurde ihm plötzlich alles fremd: Aus anderer Welt standen Kinder, zwei Türkenmädchen mit streng gebundenen Kopftüchern, vor ihm und der Tiergartenbank, auf der er glaubte, seit frühesten Apothekerjahren zu sitzen. Beide Mädchen blickten ernst. Sie mochten zehn oder schon zwölf Jahre alt sein. Beide gleich groß und gleich ernst, denn sie sahen ihn an, ohne sein Lächeln aufnehmen zu wollen. Da sie nichts sagten, wollte auch er kein Wort riskieren. Nur Vogelstimmen und fernes Rufen überm Wasser. Weit weg lärmte die Stadt. Lange blieb es fremd zwischen Fonty und den türkischen Mädchen. Die Kopftücher faßten dunkelfarbig ovale Gesichter ein. Vier Augen blieben auf ihn gerichtet. Langsamer Wimpernschlag. Nun auch die Amsel stumm. Schon wollte Fonty einen freundlich fragenden Satz bilden, um die Stille aufzuheben, da sagte das eine Mädchen in kaum berlinerndem Deutsch: »Können Sie uns bitte verraten, wie spät es ist?« Sogleich war alles weniger fremd. Fonty suchte unterm Mantel nach seiner Taschenuhr, zog diese, ließ sie golden aufspringen, las, ohne zur Brille greifen zu müssen, die Zeit ab und verriet sie den Mädchen, die mit gelerntem Knicks dankten, sich abwendeten, davongingen, nein, nach wenigen Schritten davonliefen, so schnell, als müßten sie die verratene Zeit eilig in Sicherheit bringen.
    Als er wieder mit sich allein war, glaubte Fonty, ganz ohne abwegige Gedanken oder versuchsweise gedankenlos zur Rousseau-Insel schauen und den Enten, zwei Schwänen und anderen Wasservögeln, unter ihnen einem Haubentaucher, zusehen zu können; aber er blieb nicht allein. Nicht, daß sich jemand neben ihn setzte und ein Gespräch übers Wetter begann. Kein Rentner, keine gichtkrumme Oma und keine aus vorigem Jahrhundert noch immer ansässige Amme – »Die Spreewälderinnen riechen alle milchsauer« – wurde ihm lästig. Niemand mußte als kompakte Person Platz nehmen, um ihn ins anekdotische Erzählen und Durchhecheln ganzer Tischgesellschaften zu bringen. Er blieb, selbst wenn er allein saß, im Gespräch. Diesmal kam kein Plauderton auf. Gezwungen zuzuhören, hatte er Hoftallers gleichbleibend abrechnende, dabei nicht strenge, eher trocken Papier auswertende Stimme im Ohr. Als Tallhover setzte er wieder einmal dort an, wo es weh tat, beim HerweghClub. Die Leipziger Zeit. Und schon war er, ohne Sachsen verlassen zu müssen, in der Salomonis-Apotheke des Dr. Gustav Struve und sogleich bei der anfangs revolutionär, dann romantisch gestimmten Gärtnerstochter Magdalena Strehlenow, bei Ruderpartien auf der Elbe, Dresden und die Folgen: »Na ja, so schlimm war es nun auch wieder nicht. Notfalls konnte man Lepel anpumpen. Man war frei, hatte das Wacheschieben als EinjährigFreiwilliger beim Garderegiment ›Kaiser Franz‹ hinter sich, gleichfalls die ungeplante Urlaubsreise, diesen total verrutschten Zweiwochenabstecher nach England. Und endlich war mit nein Staatsexamen erster Klasse – gratuliere! - die Approbation als Apotheker verbrieft. Mehr oder weniger glücklich verlobt waren wir, ohne allerdings der zukünftigen Braut die Dresdner Geheimnisse zu flüstern. Feige weggedrückt wurden die Kahnfahrten, das liebestolle Gebumse, das Kindergeplärr. Statt dessen hat unser Achtundvierziger mit nem rostigen Gewehr rumgefuchtelt. Dabeisein ist alles! Und trotzdem: wir haben nicht zugegriffen. Sosehr uns ein paar Tunnelgedichte und später der konspirative Herwegh-Club mißfallen mußten, nix geschah, nicht mal ne Abmahnung. Na, weil wir ausgelastet waren, besonders ich. Als Kriminalkommissar hatte man mich auf das überall Epigonen heckende Objekt Georg Herwegh angesetzt, und das mit nein Signalement, das mein Biograph zu Recht ›lächerlich‹ nennt. Als aber in der ›Dresdner Zeitung‹ nach und nach neunundzwanzig politische Korrespondenzen erschienen, deren Autor chiffriert auftrat, sahen wir uns doch gezwungen, ne Akte anzulegen: Kennwort ›Fontaine‹. Las sich teils überspannt, teils scharfmacherisch, hatte durchweg Preußens Polizeistaat am Wickel, gab zwar nichts Neues her, aber gefährlich waren diese Rundumschläge schon …«
    Fonty hörte das alles in sich hinein. Wer ihn im Vorbeigehen auf der Tiergartenbank gesehen hätte, wäre bei verlangsamtem Schritt Zeuge seines Kopfschüttelns und seiner Grimassen geworden: ein alter Mann mit sich und anderen im Streit. Ab und zu

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