Ein weites Feld
Castle nach Loch Katrine …
7 Vorm Doppelgrab
Bis dahin ist es noch weit. Zwar mußte keine Sondergenehmigung mehr beantragt werden, um den seiner Lage wegen schwer zugänglichen Friedhof betreten zu dürfen, doch bis sich Fonty zum Besuch der Grabstelle entschloß, verging der Mai und wurde es Juni, hatte der Tiergarten Vorrang, saß er auf seiner Lieblingsbank, gefielen ihm Plauderstündchen mit Lebenden und Toten und redete ihm ein Wasservogel Reiserouten auf vorgeschriebenen Wegen ein. Warum nicht nach Frankreich? Hätte nicht die Gascogne Ziel sein können? Wir vom Archiv, denen die Schwankungen seines Fernwehs bis ins Wetterwendische in tausend Briefen belegt sind, mußten uns diese Fragen stellen. Warum mit allen Abtauchgedanken nach London und weiter weg über den Grenzfluß Tweed? Was zog ihn in schottische Hochmoore, auf Macbeths Hexenheide? Gaben seine von der Tiergartenbank aus laufenden Fluchtgedanken nur diese entlegene, vom Clanwesen abgesteckte Region frei? Hätte der Unterricht beim Haubentaucher nicht in eine aufgeklärtere Richtung weisen können? Wir blieben geteilter Meinung. Immerhin standen den gedruckten Erinnerungen an zwei Aufenthalte in England und dem damals noch ungedruckten Londoner Tagebuch andere, tiefer wurzelnde Bindungen entgegen: Die doppelt hugenottische Herkunft hätte ihn, der ja alles nachlebte, bestimmen müssen. Und selbst wenn man den familiären Hintergrund wegließe, wären sein Wälzer über den Deutsch-Französischen Krieg und das Büchlein über die Gefangenschaft genauso zwingend gewesen wie die Schottlandreise mit Bernhard von Lepel, wenngleich das Kriegsbuch weder bei Militärhistorikern noch beim Kaiser anerkennende Worte gefunden hat; und was die Erinnerungen an die Internierung in Frankreich betraf, hatte der Sohn George, der 70/71 als Hauptmann im Feld stand, sogar fehlenden Franzosenhaß angemahnt; in einem nörgelnden Brief beklagte er des Vaters Mangel an vaterländischen Gedanken. Dennoch, gerade weil er nahe den Kriegsschauplätzen, obzwar nie in Kämpfe verwickelt, in Gefangenschaft geraten war, sprach alles für Frankreich. Man hatte ihn, nach Zwischenstationen, auf der Insel Oléron interniert. Man hätte ihn standrechtlich erschießen können, was nach Kriegsrecht billig gewesen wäre. Jedenfalls haben ihm preußische Offiziere versichert, daß er im umgekehrten Fall, was heißen sollte, als Franzose in deutscher Hand, nicht mit Gnade hätte rechnen können; auch als harmlose, »nur schreibende Person« wäre er füsiliert worden. Außer einiger Dankbarkeit – schon nach zwei Monaten fand die Internierung des Unsterblichen ein Ende – hätte Fonty im Verlauf seiner nachgeordneten Existenz weitere Bindungen an Frankreich finden können. Wie wir wissen, war er bereits im übernächsten Krieg dort abermals als Berichterstatter tätig. Dem Gefreiten Wuttke ging in vier Jahren Etappendienst die Tinte nicht aus, so fleißig und rückbezüglich ist er sich vom Atlantikwall bis in die Cevennen hinein auf der Spur gewesen; und wir vom Archiv hätten dieses Material sammeln müssen, denn alle vom Reichsluftfahrtministerium freigegebenen Texte waren reich an Zitaten und schillernden Querverweisen – nicht nur die Kriegsbücher haben ihm Stichworte geliefert. Gleichfalls versäumten wir, uns über Lyon und jene angeblich folgenreiche Liebesaffäre kundig zu machen, die später wundersam aufleben und Fonty einholen sollte. Hoftaller ist zum Zeitpunkt nur mutmaßlicher Reiseziele oft mit Andeutungen »operativ« gewesen, und als er uns wieder einmal aufsuchte, um das Archiv durch bloße Anwesenheit zu irritieren, sagte er: »Ob Dresden oder Lyon, dem Apothekergehilfen entspricht der Luftwaffengefreite. Man könnte sogar von nein gewissen Schulterschluß sprechen, denn beide haben sich leichtsinniger betragen, als zu verantworten war. Aber ich merke schon: Hier ist man schnell dabei, alles mit Jugend zu entschuldigen.« Fontys nun häufig wiederholte Sentenz »Ich stehe auf dem Punkte, mich demnächst dünne zu machen« war, wie viele seiner Punktumsätze, ein Zitat mehr. Noch durften wir folgern, daß seine Sehnsucht in Richtung Cevennen ging, er hätte in den Schluchten der Ardèche untertauchen können; doch blieb er insgeheim auf England und die schottischen Hochmoore fixiert. Nichts konnte ihn vom Sprung über den Kanal abbringen. Er trug seinen Fluchtgedanken zum Arbeitsplatz, schwieg aber, wo immer er tätig war, ob im Paternoster oder beim Aufpolstern des
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