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Ein weites Feld

Ein weites Feld

Titel: Ein weites Feld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Günter Grass
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vorbei: die Männer zuerst, dann Frauen und Kinder. Immer wieder Türken mit Einkaufsnetzen und Plastiktüten. Fonty versuchte, den Kopftüchern der Frauen und Mädchen – viele waren schwarz oder weiß, einige mehrfarbig – einen dem schottischen Farbspektrum vergleichbaren Sinn abzulesen.
    Nachdem abermals eine türkische Großfamilie ohne Blick für seinen Kampf mit dem Dämon vorbeigezogen war, rief er: »Hören Sie, Tallhover! Außer mir gehört der Tiergarten denen da. Die Wege, die Wiesen, die Bänke, alles. Das hier ist zweifelsohne türkisches Terrain. Hab ich gelesen: Nach Istanbul und Ankara gilt Berlin als drittgrößte türkische Stadt. Und immer mehr kommen. So viele bringt selbst Ihresgleichen nicht unter Kontrolle. Kapiert? Die neuen Hugenotten sind Türken! Die werden hier Ordnung schaffen und System reinbringen; Ihres hat gestern abgedankt, meines schon lange. Zwar schrieb ich, bevor man mich zum Zuarbeiter der Zensur machte, an meinen Freund Friedrich Witte: ›Ich verachte diese feige, dumme und gemeine Sorte Politik und drei- und sechsfach die Kreaturen, die sich dazu hergeben, diesen Schwindel zu verteidigen, und tagtäglich ausrufen: Herr von Manteuffel ist ein Staatsmann! Sie könnten mir meine frühere Stellung wieder antragen, ich will sie gar nicht …‹ – aber ein halbes Jahr später mußte ich dennoch Lepel beichten: ›Habe mich heut der Reaktion für monatlich 30 Silberlinge verkauft. Man kann nun mal als anständiger Mensch nicht durchkommen. Ich debütiere als angestellter Skribifax bei der Adler-Zeitung mit Ottaven zu Ehren von Manteuffel. Inhalt: Der Ministerpräsident zertritt den Drachen der Revolution!‹ Doch als mich in London der Gesandte von Bunsen, ein Liberaler natürlich, gegen Manteuffel aufwiegeln wollte, hab ich, bei aller Neigung, widerstanden und schrieb meiner Emilie, die natürlich voller Angst war, ich könnte den Krempel hinschmeißen: ›Von Manteuffel leben und gegen ihn schreiben wäre die Steigerung der moralischen Ruppigkeit …‹ Dann starb in Berlin das zweite Kind, das ich nie gesehen habe. Ein Elend war’s. Nicht mehr Giftmischer, dafür Skribifax unter Aufsicht. Und das immerfort, ob bei der Reichsluftfahrt oder beim Kulturbund. Immer hattet ihr eure Finger drin, damit meine durch und durch verkrachte Existenz … Selbst jetzt noch, wo doch die Mauer weg … Darf gnadenhalber Akten schleppen und muß beiseite gucken, wenn ihr … Dabei nie allein, sogar im Paternoster nicht … Und gäbe es nicht den Tiergarten, die vielen Türken, den Haubentaucher …«
    Danach brummelte Fonty nur noch vor sich hin. Einen Furz ließ er streichen und noch einen. Den Kopf mit dem fusselnden Weißhaar vornübergebeugt, so saß er, beidhändig auf den Stock gestützt, die nervös zuckende Unterlippe verdeckt. Gealtert, als ginge es aufs Ende zu, wollte ihn kein Gedanke beleben, nur Flucht treppab, immer weiter zurück.
    Wer langsam vorbeiging, hätte einzelne Wörter, auch Halbsätze mitnehmen können; und wir vom Archiv wären in der Lage gewesen, seinen Sprachfluß zu entziffern. Vieles gab sich als Zitat aus des Unsterblichen Reisebrief »Jenseits des Tweed« zu erkennen, den er nach dem dritten und längsten Englandaufenthalt schrieb, als er, gemeinsam mit seinem Freund Lepel, Schottland besuchte: »Als wir High-Street entlang … An allen Ecken Hochlandsöhne mit Kilt und Plaid … Waren wohl Werbeoffiziere von den Highlanders …« Danach war er nicht mehr auf Edinburghs Pflaster unterwegs, sondern lebte zur Zeit Jakobs IV. Um Ritterlichkeit ging es und um »Bell-the-Cat«. Mit geschultem Ohr ließ sich aufschnappen: »An Jakobs Hofe war Spens von Kilspindie … In Stirling Castle beim Weine flogen … Des Hauses Douglas wachsende Macht … Der Hieb war tödlich, traf in die Weiche …« Dann sah er nur noch dem Haubentaucher zu, der mal da, mal weg war. Dessen Wiederholungen langweilten nie. Selbst als er aufstand, sich dem Ufer näherte und aus der Manteltasche heraus Enten mit Brotkrusten fütterte, war er mehr beim Haubentaucher und dessen Künsten. Nichts konnte ihn ablenken. Zwar steckte in der anderen Manteltasche gerollt »Der Tagesspiegel« und meldete Wählergebnisse aus den anschlußbereiten Ländern, doch Fonty hatte vom Arbeiter- und Bauern-Staat Urlaub genommen. Aktuelles, das er als Theo Wuttke wahrnahm, wenn es ihn hart genug anstieß, zählte im Tiergarten nicht; dort blieb er rückläufig unterwegs: schon wieder in Schottland, von Stirling

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