Ein weites Feld
kommt er als Fronturlauber oder kurz nur auf Dienstreise zurück, führt Emmi verlobt am Arm durch den Rosengarten, vorbei am Lortzingdenkmal und ist mit ihr schon einmal rund ums Wasser und über Brücken gelaufen, ganz hingegeben dem pädagogischen Zauber der Insel: Freiheit und Tugend, das beißt sich oder gebiert Wohlfahrtsausschüsse und Fallbeilurteile; Robespierre war Rousseaus folgsamster Schüler …
Doch des Luftwaffengefreiten Berichte, die er der Braut, die hübsch und ein wenig plapprig ist, wie vom Blatt flüstert, sind in dem verwitterten Nest Domrémy auf Spurensuche. Dort hat er Mannschaften und Offizieren literaturgeschichtliche Vorträge gehalten: Wo Schillers ›Jungfrau von Orléans« geboren wurde … Warum »La pucelle« unsterblich ist … Und wie der Unsterbliche, auf der Suche nach Jeanne d’Arc, im Verlauf des siebziger Krieges samt Rotkreuzbinde und fataler Pistole als preußischer Spion hopsgenommen wurde und in Gefangenschaft geriet. Immer wieder kommt er mit neuen Reiseimpressionen, die ihm die Verlobte säuberlich abtippt. Berichte aus Besançon, Lyon, schließlich aus den Cevennen, wo er sich nach hugenottischen Fluchtburgen umgesehen und in Gefahr gebracht hat. Doch immer noch berichtet er siegesgewiß und kulturbeflissen, obgleich er, vor letztem Marschbefehl, den Tiergarten in verletztem Zustand erlebt hat und seit Stalingrad alle Fronten rückläufig sind und die Braut Emmi schwanger ist und Tante Pinchen auf Heirat drängt … Dann kam der Luftwaffengefreite und Kriegsberichterstatter Theo Wuttke nicht mehr. Erst nachdem im Tiergarten der Kahlschlag beendet war, Bombentrichter neben Bombentrichter voll Wasser stand, alle Denkmäler nur torsohaft überlebt hatten, die Tiergartenbänke, die Luisenbrücke und die Kroll-Oper zerstört waren, als alles, was um den Zeltenplatz an Herrlichkeit gewesen war, in Trümmern lag und nur noch, wie zum Hohn, die Siegessäule ragte, als der Krieg aus war, kam er wieder: zurück aus französischer Gefangenschaft, Lager Bad Kreuznach, deshalb ausgehungert und klapprig in Uniformresten und auf der Suche nach seiner Verlobten, die er mit Georg, dem Söhnchen, bei Emmis Tante Pinchen unter bombenbeschädigtem Dach fand und im Nachholverfahren Oktober 1945 heiratete. Gleich nach der Trauung mußte das junge Paar auf Holzsuche gehen, denn Tante Pinchens Kohlenkeller war, bis auf staubige Reste, leer. Und da das Schlachtfeld des Tiergartens für die Wuttkes und hunderttausend andere Berliner nur noch aus restlichem Brennholz bestand, wurden selbst Wurzelstöcke gerodet, nichts blieb.
Diese und weitere Rückblenden erzwang die Lieblingsbank. Nachdem er sich mit Axt, Fuchsschwanz und Bollerwagen auf Suche nach letzten Stubben und Strünken gesehen hatte, rührte ihn ein Familienbild: Gleich zehntausend anderen beackerten er und Emmi mit Spaten und Hacke eine Parzelle, während das Söhnchen Georg zwischen den Eltern mit einem Schäufelchen herumlief. Sie pflanzten Kartoffeln, säten Rübensamen aus, denn ab April 46 wurde das kahlgeschlagene Tiergartengelände vom Brandenburger Tor bis hin zum Flakbunker am Zoo parzelliert. Das geschah laut Magistratsbeschluß; so groß war die Not, so hart der Winter von 46 auf 47. Viele starben weg, auch Pauline Piontek, geborene Hering, die ihren jüngeren Bruder, Emmi Wuttkes Stiefvater, der mit seiner Frau wahrscheinlich in Breslau zu Tode gekommen ist, um nur zwei Jahre überlebt hat. Noch keine sechzig war Tante Pinchen, als sie den Wuttkes ihre Dreieinhalbzimmerwohnung auf dem Prenzlauer Berg hinterließ, ein Umstand, der beide für kurze Zeit glücklich machte. Erst jetzt, nach den Notjahren, kehrte Fonty von seinen Ausflügen in die Vergangenheit zurück. Erstaunt sah er, daß des Großgärtners Peter Josef Lenné Traum, den kein knauseriger König und keine Berliner Zerstörungswut hatte löschen können, nun endlich und nach immer neuen Pflanzstufen, Wegeplänen und Wasserregulierungen in Erfüllung gegangen war: Um ihn stand alles in Maigrün, zusehends gingen Millionen Knospen auf, Vogelstimmen, so reich gemischt, daß selbst die Amsel Mühe hatte, für ihre Strophen Gehör zu finden. Hinter ihm begann der Holunder in Fächern aufzublühen. Und weil das Wasser um Rousseaus Insel gleichfalls und anregend belebt war, sah Fonty sich versucht, den Lennéschen Traum abermals in Fortsetzungen zu träumen, als wäre nichts geschehen, als hätte es weder Krieg noch Verwüstung gegeben, als werde der
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