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Ein weites Feld

Ein weites Feld

Titel: Ein weites Feld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Günter Grass
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vor kurzem: Hauptmann? Major?« So namentlich und über die Zeit hinweg angesprochen, lächelte Fontys ausdauernder Tagundnachtschatten. Wunderbarerweise zog seine Zigarre noch. Er nahm die Baseballkappe ab und wischte sich mit dem Handrücken die Stirn. Man sah, daß ihm das Haar streichholzlang um den Kopf stand, einst semmelblond, jetzt steingrau. Hoftaller konnte gewinnend lächeln. Und seine Stimme kam ohne Schärfe aus: »Aber, aber. Wer redet hier leichtfertig von Dienstschluß. Glauben Sie mir: Für uns gibt’s kein Ende. Kaum weggepustet, sind wir schon wieder da, und zwar vollgestopft mit nein Wissen, das gut verpackt überwintern durfte. Ein Wissen übrigens, das gefragt ist und seinen Preis hat. Schon jetzt klopft Kundschaft an: Pullach, Köln, um nur naheliegende Adressen zu nennen. Hab da ne Menge Kollegen, die wollen auf allerletzten Wissensstand gebracht werden. Aber auch älteres Spezialwissen ist gefragt. Und da die Dienste schon immer gesamtdeutsch geplant und gehandelt haben, ist man gerne behilflich. Doch damit sind unsere Möglichkeiten nicht erschöpft. Gerade Sie, mein lieber Wuttke, sollten beim Ausdenken von Reisen vorsichtig sein. Selbst wenn es Ihnen neuerdings gefällt, großartig Freiheit auszuposaunen, muß ich daran erinnern, daß Ihnen unter diesem und jenem Namen Freiheit schnurzpiepegal gewesen ist. Immer stand Preußen ganz oben, dann kamen König und Junkertum. Jedenfalls solang Sie sich der Kreuzzeitung, den Hesekiels und Merckels gegen miese Bezahlung verschrieben hatten. Während der ziemlich stabilen fünfziger und sechziger Jahre. Immer auf Linie, jawoll, und nur in Briefen gemeckert. Genauso beim Kulturbund. Hand aufs Herz, Fonty! Wie bei der Reichsluftfahrt die ›Volksgemeinschaft‹ haben Sie später die ›Arbeiter- und Bauern-Macht‹ in Großbuchstaben gefeiert. Und je schneidiger sich der Sozialismus Ihrem geliebten Preußen anpaßte, um so mehr war Ihnen Freiheit schnuppe. Hieß nicht einer Ihrer Vorträge über den Wälzer ›Vor dem Sturm‹ geradezu anschmeißerisch ›Vom preußischen Landsturm zur Volksarmee‹?«
»Kolossaler Irrtum! Hieß zwar so, wurde aber verboten, nachdem ich ihn zweimal gehalten hatte. Zu viel Scharnhorst und Gneisenau, zu wenig Rote Armee …«
»Weil Ihre Thesen zu früh kamen. Mitte der sechziger Jahre mußte das folgenlos bleiben. Doch keine zehn Jahre später lief alles im Stechschritt auf Zack. Und nun soll auf einmal Freiheit das große Rennen machen. Raus in die weite Welt! Dabei geht es nur um uns, um Deutschland, die Einheit! Nur deshalb haben wir nachgeholfen und die Genossen hier, die Herren drüben unter Zugzwang gesetzt. Wir haben dafür gesorgt, daß in Leipzig und anderswo dieses kindische Gegröle ›Wir sind das Volk‹ durch ein ausgetauschtes Wörtchen ne Prise Pfeffer bekam: ›Wir sind ein Volk!‹ Jawoll, ein einziges. So jedenfalls, mit Sprechchören, wurde Einheit diktiert, und die kommt. Geht gar nicht anders. Aber zuerst kommt, weil es muß, das Geld. Werden zahlen müssen, jahrelang zahlen müssen. Und wenn die Herren von drüben vom Zahlen und Draufzahlen schwach sein werden, wie unsere Genossen schwach, einfach zu schwach gewesen sind, dann heben wir den Deckel und machen die Büchse, das große Faß auf. All unser Wissen – und wir sind fleißig gewesen – wird über sie kommen. Beim heiligen Mielke! Nichts soll umsonst gewesen sein. Und auch Sie, mein lieber Fonty, sollen wissen, daß unsere operativen Vorgänge nicht abgeschlossen sind. Ins Offene drängen die Akten in ihrer Ordnung, wieder aufleben wollen sie und die von Ihnen so laut berufene Freiheit genießen. Das wird ein Fest, ne gesamtdeutsche Fete! Am Ende weiß jeder über jeden Bescheid. Wir nennen das: offengelegte Einheit. Deutschland muß durchsichtig werden. Das gilt auch für Sie, mein lieber Wuttke. Ist nix mit untertauchen und mal kurz weg sein. Kennen wir doch seit Herweghs Zeiten, das Haubentaucherprinzip!« Die Biergläser leer. Beide am Stehtisch in zugiger Bahnhofshalle. Hoftallers Zigarre nun kalt. Die Abfahrt eines Fernzugs über Stralsund nach Saßnitz wurde ausgerufen. Und Fonty schwieg. Erst als sie auf dem U-Bahnsteig in Richtung Alexanderplatz und Weiterfahrt zur Schönhauser Allee standen, sagte Fonty, kurz bevor der Zug aus Richtung Marzahn einfuhr: »Das ist alles furchtbar richtig. Aber was richtig ist, muß nicht wahr sein. Die Wahrheit ist ein weites Feld.«
Dann griffen sie zu ihren Schlußverkaufstüten und stiegen

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