Ein weites Feld
Fonty. Menschen, die einsichtig sind und rechtzeitig zur Vernunft kommen. Menschen, die gelernt haben, sich in jedem System loyal zu verhalten. Das haben Sie oft genug bewiesen, selbst wenn es manchmal schwerfiel, bei der Stange zu bleiben. Waren nach eigenem Zeugnis zwar aufmüpfig, doch nie Frondeur. Sind sich immer treu geblieben, ob zur Manteuffel-Zeit oder bei der Reichsluftfahrt. Ihre Kulturbundvorträge beweisen das: kritisch, gewiß, doch nie destruktiv …« Erst bei der zweiten Cola lockerte sich Fonty ein wenig. Er versuchte, seine verunglückte Reise leicht und sogar auf die Schippe zu nehmen. Aus drei oder vier McDonald’s-Servietten faltete er einen Papierhut, setzte diesen auf und rief über die Geräusche der Schnellabfütterung hinweg: »Hätte nicht gedacht, daß meine Exkursion so rasch in schottischem Milieu enden würde. Frau Kruse zum Beispiel, na, die mit dem Huhn auf dem Schoß, braucht noch Stunden bis Hamburg.« Dann rief er die Namen einiger legendärer Highlander auf, die Percys und die Douglas, war aber nicht bereit – so sehr Hoftaller drängte –, den öffentlichen Vortrag seiner berühmten Ballade zu wiederholen: Ich hab es getragen sieben Jahr …
ZWEITES BUCH
9 Es sind die Nerven
Die Kollwitzstraße ist eine zum gleichnamigen Platz führende Verlängerung der von der Dimitroffstraße gekreuzten Senefelderstraße. Früher, als Tante Pinchen hier wohnte, hieß sie anders, wie auch der Platz nicht den Namen der einst hier ansässigen Künstlerin trug; Wörther Platz hieß er, und die Straße hieß Weißenburger. Käthe Kollwitz konnte den Blick nicht abwenden: Sie hat menschliches Elend gezeichnet, was Grund genug war, ihren Namen unter Verbot zu stellen oder zu ehren. Ähnlich hatte sich die jeden Systemwechsel nachäffende Umbenennung von Plätzen und Straßen im Bezirk Prenzlauer Berg und anderswo niedergeschlagen. Wenn im »Stechlin« Schickedanz sagt: »Straßenname dauert noch länger als Denkmal«, ahnte er nichts von der bald und rabiat aufkommenden Kurzlebigkeit des Gedenkens; denn ob es bei Kollwitzplatz und der gleichnamigen Straße bleiben würde, war zu Beginn der allerneuesten Wechsel- und Wendezeit nicht sicher. In anderen Stadtteilen liefen bereits Anträge, nach deren heftigem Verlangen hier eine Heinrich-Heine-Straße, dort ein RosaLuxemburg-Platz dran glauben sollte. Allerdings war man im Sommer 90 noch um Namen verlegen, mit deren Hilfe die angekündigte Einheit Deutschlands hätte befestigt werden können. Das Mietshaus Nummer 75 lag in Richtung Platz auf der rechten Straßenseite. Beiderseits der scheunentorbreiten Durchfahrt zum Hinterhof, von deren linker Mitte der Treppenaufgang ins Vorderhaus führte, bewahrte brüchiger Putz einige Handelsangebote aus vergangener Zeit auf: Rechter Hand waren, laut schwarzer, zum Teil versunkener Schrift, »Holz, Kohlen, Briketts und Koks« vorrätig gewesen; linker Hand hatte ein Flickschuster eine Kellerwerkstatt als »Besohlanstalt« betrieben. Noch mehr bot der Fassadensockel des Nachbarhauses: Dort waren einst »Kurzwaren. Schuhcreme, Butterbrot- und Klosettpapier« sowie »Dosen und Gläser jeder Größe« über den Ladentisch weg verkauft worden. Doch hier zählt nur die Nummer 75, ein vom Hochparterre an dreistöckiges Haus, in dessen von Nebengebäuden, Schuppen und Brandmauern verengtem Hinterhof ein Kastanienbaum die Kriegs- und Nachkriegszeiten überlebt hatte. Bis zum Dachgeschoß hoch, wo die Wuttkes ihre dreieinhalb Zimmer bewohnten, zeigte der Baum die Jahreszeit an, indem er winterliches Licht durchließ, mit Knospen prahlte, großblättrig Schatten gab und im Oktober die stachligen Schalen seiner sanft gerundeten Früchte auf geteerte Schuppendächer und den hartgetretenen Grund des Hofes warf. Nicht nur Kinder sammelten ein; auch Fonty hob frisch gefallene, noch feucht glänzende Kastanien in beiden Manteltaschen auf Jahr um Jahr, oft bis in den Dezember hinein. Und alljährlich ärgerte sich Emmi über ruiniertes Taschenfutter: »Ist manchmal richtig kindisch, mein Wuttke. Was er sieht, hebt er auf.« Es war aber ein heißer und bei Windstößen staubiger Julitag, an dem Hoftaller den verhinderten Englandreisenden bis zur Haustür heimführte. Ab U-Bahnstation Senefelder Platz trug er sogar beide Koffer. Mag sein, daß sich Fonty, dem nur die Tüte anhing, die letzte Wegstrecke lang zum jünglingshaften Schritt zwingen konnte, doch vom Kollwitzplatz an hatte er Blei in den Sohlen, und vorm Haus
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