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Ein weites Feld

Ein weites Feld

Titel: Ein weites Feld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Günter Grass
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angekommen, verschleppte er seine Ankunft weiterhin und wollte nicht treppauf. Er trat auf der Stelle. Das Mietshaus und dessen von Stockwerk zu Stockwerk wechselnder Geruch erschreckte ihn.
    Sein sonst übliches »Also bis morgen dann« hielt er zurück und erfand eine Menge Vorwände für gnädigen Aufschub, indem er das Wetter, die Tagespolitik und die Fassadeninschriften – rechts den verjährten Kohlenhandel, links die einstige Flickschusterei – als Themen für unterhaltsames Zeitschinden ausprobierte. Er sagte: »Eigentlich mag ich ja Hitze.« Oder urteilte: »Kolossal ridikül dieser Pastor mit Bart als oberster Dienstherr der Volksarmee. Habe schon immer gewußt, daß in meinen Landpfarrern enorm viel Ehrgeiz steckt.« Die verwitterte Mauerinschrift »Besohlanstalt« wurde zum wiederholten Mal »furchtbar witzig« genannt. Er erzählte Anekdoten aus Tante Pinchens Leben und von ihrer Not mit dem stets betrunkenen Ernst-August Piontek, einem Flickschuster, der die Besohlanstalt so lange an halbwegs nüchternen Tagen betrieb, »bis der Suffkopp am Ende war und vom Schemel fiel, worauf meine Emilie bei ihrer verwitweten Tante Wohnung fand. Das war anno neununddreißig, kurz vor Kriegsbeginn …« Aber Fonty wollte eigentlich weder über die junge, schon als Bürolehrling mollige Emmi noch über die alte, wie er sagte, »vor der Zeit gealterte« Frau Wuttke reden, vielmehr geriet er, während sich Hoftaller »hinter moltkehaftem Schweigen« vermauerte, in ein Geplauder, das vor- wie rückläufig Zeit raffte; so unablässig lief ihm der Faden von der Spule. Im Verlauf seiner Filibusterrede klapperte Fonty alle Stationen der vorzeitig beendeten Reise ab. In London ließ er keine Kunstgalerie, in Schottland kein Schloß aus. Alle Schrecknisse des Towers wurden aufgezählt. In jedem Hochmoor stocherte er nach Legenden, um schließlich mit dem Eingangszitat aus »Macbeth«, »When shall we three meet again«, und dem Hexentreff »Um die siebente Stund am Brückendamm« bei einer seiner späten Balladen zu verweilen: »Die Brück’ am Tay« wurde am 10. Januar 1880 in Paul Lindaus »Gegenwart« veröffentlicht und beruhte auf einer Zeitungsnotiz, die unter der Rubrik »Vermischtes« von einem Eisenbahnunglück in Schottland Bericht gegeben hatte. Strophe nach Strophe reihte Fonty vorm Hauseingang Kollwitzstraße 75. Er begann mit der Ankündigung des »trotz Nacht- und Sturmesflug« pünktlichen Edinburgher Zugs: »Ich seh einen Schein am anderen Ufer. Das muß er sein«, datierte nun, auf Wunsch des Brückenwärters, die von den Hexen heraufbeschworene Katastrophe aufs Weihnachtsfest: »Zünd alles an wie zum Heiligen Christ«, reimte sich in dramatischer Steigerung voran: »Denn wütender wurde der Winde Spiel«, war schon beim Zugunglück auf der Brücke: »Erglüht es in niederschießender Pracht überm Wasser unten … Und wieder ist Nacht«, worauf er mit dem Kommentar der drei Hexen »Tand, Tand ist das Gebilde von Menschenhand« abschloß und wieder einmal Hoftaller bewiesen hatte, was alles ihm geläufig war. Wie die Fassade, vor der er stand, den untergegangenen Einzelhandel memorierte, entstaubte er eine Schulbuchballade; aber aus dem Abschiedsbrief, den er für Frau und Tochter auf den Küchentisch gelegt hatte, wollte er nichts, keinen Halbsatz zitieren. Sein Zuhörer gab sich dennoch zufrieden: »Großartig, Fonty! Sowas hör ich immer gerne, besonders diese Ballade. Da sieht man, was ein Könner aus ner bloßen Kurznachricht, die in der Vossischen stand, machen kann. Bezweifle, daß unsere Prenzlberger Talente sowas Schauriges hinkriegen. Läßt sich ne Menge dazu sagen. Zwar kommt mir das Ganze übertrieben fatalistisch vor, doch Ihr Hexeneinmaleins stimmt vorn und hinten. Wird einem ja tagtäglich bestätigt, daß alles vergänglich ist. ›Tand, Tand ist das Gebilde von Menschenhand.‹ Gut gereimt, Fonty! Sehe ich ähnlich. Muß mich nur im eigenen Dienstbereich umgucken. Was, außer Papierkram, ist von unserer Staatssicherheit geblieben? Wohin haben sich die führenden Genossen verkrochen? Memoiren schreiben sie … Nichts bleibt vom Klassenbewußtsein … Tand, alles Tand … Aber nun ist genug gejammert. Sie und Ihr Reisekoffer sollten sich langsam treppauf bewegen. Wird sich Sorgen machen, Ihre Emmi. Und auch mich ruft, wie man so schön sagt, die Pflicht. Wissen Ja, wie das läuft. Muß neu Bericht verzapfen, reine Routine. Werde mich aber kurz fassen können und Ihre vernünftige Umkehr

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