Ein weites Feld
nich runter vom Finger. So is mein Wuttke nun mal, muß alles immer noch schlimmer machen …«
Während der Rückfahrt nach Potsdam erinnerte sich meine Kollegin an ein Briefzitat, nach dessen Wortlaut die historische Emilie im Jahr 1892 die schwere Erkrankung des Unsterblichen – laut Diagnose Gehirnanämie – beschwört und dem Sohn Friedrich berichtet: »Es ist nicht zu beschreiben, wie schwer es ist, mit dem armen Kranken zu leben, die Tage sowohl wie die Nächte. Wir erwarten den Arzt, der immer dringlicher von einer Nervenheilanstalt spricht. Papa, der erst damit einverstanden schien, zeigt jetzt ein rechtes Grauen, so daß ich nur in äußerster Not meine Einwilligung geben würde …«
Die Familie befürchtete geistige Umnachtung; wie Emmi Wuttke zu ihrer gleichfalls depressiv daniederliegenden Tochter gesagt hat: »Ihr endigt beide noch mal inner Klapsmühle, wenn ihr so weitermacht.« Und ähnliche Warnungen sprach Dr. Zöberlein aus, den man nach heftigen, von Schüttelfrost begleiteten Fieberanfällen aus der nahen Poliklinik gerufen hatte. Als Hausarzt waren Zöberlein die reizbaren Nerven des Kranken seit Jahren vertraut. Anfangs meinte er, die Krise mit stärkeren Medikamenten eindämmen zu können. Doch als Fonty aus nachgelebtem Haß auf alles, was nach Apotheke roch, jegliche Medizin verweigerte, riet er zur Überweisung in eine der Nervenkrankheit entsprechende Abteilung der Charité. Noch lieber wäre ihm das Forschungszentrum Buch gewesen, dessen Anstalt »sogar im Westen hohen wissenschaftlichen Ruf genießt«. Doch kaum war von »Anstalt« die Rede, rief Emmi: »Da kriegt ihr meinen Wuttke nich hin. Nur über meine Leiche!« Und wie nach vorgeschriebener Rolle reagierte Fonty auf den ärztlichen Rat: Beim nächsten Besuch sahen wir ihn zwischen Fieberschüben abgrundtief niedergeschlagen. Selbst am Ringfinger wollte er nicht mehr zerren; und was seinem von elendigen Müdigkeiten, gastritischen Störungen und dem Nervenfieber geplagten Vorgänger immerhin gelungen war, lange Abschiedsbriefe zu schreiben, schaffte er nicht. Der Unsterbliche hatte vom Krankenlager aus seinem Brieffreund Friedlaender geklagt: »Man ist eben das gelbe Blatt am Baum um die Zeit, wo der Spätherbst einsetzt. Die Gesamtstimmung ist freudlos und macht einen jede Stunde von der Mißlichkeit der Sache überzeugt. Unbegreiflich, daß wir das Wertlose für so wertvoll halten und uns sträuben gegen das Abschiednehmen von Tand und Flitter …« Dr. Zöberlein sagte, nun müsse die Selbstheilkraft helfen. Aus der Nachbarschaft kam Hilfe für Emmi. Inge Scherwinski, die als alleinerziehende Mutter dreier Gören zumindest am Vormittag Zeit fand, sprang ein. Als Martha Wuttkes Jugendfreundin aus gemeinsamen FDJ-Jahren kannte sie deren Anfälligkeiten. Ihre Diagnose hieß: »Dat is Migräne, da kann man nischt machen jegen, nur abwarten und bißken jut zureden.«
Also saß sie für ganze und halbe Stunden in Marthas abgedunkeltem Zimmer und plapperte von früher, von Ernteeinsätzen und Sommerlagern. Und da Inge Scherwinski gerne ihr feines Stimmchen zum Vortrag brachte, sang oder summte sie Martha mit Liedern in den Schlaf, die einst wachrütteln und den Aufbau des Sozialismus hatten fördern sollen. Emmi legte ihrem Mann weiterhin kalte Kompressen auf. Diesmal war sie besorgter als bei verjährten Hinfälligkeiten, selbst wenn sie nicht viel auf Fontys Fieberreden gab, die keine Zeitordnung kannten. War es soeben noch die verpatzte Schottlandreise, die ihn über Hochmoore oder von Schloßruine zu Schloßruine trieb, verärgerte ihn plötzlich und mitten im Satzgefälle eine mißglückte Sommerfrische im Riesengebirge, wo die Familie keinen Schlaf finden konnte: »Mete nicht wegen ihrer nervösen Angstzustände, die meinen nicht unähnlich sind, Emilie nicht wegen der ewigen Stürme …« Doch am ausgiebigsten sprach sich während der Fieberschübe die große Schreibkrise des Unsterblichen aus: das Innehalten inmitten der Arbeit an »Effi Briest«. Mit Frau und Tochter hatte er sich nach Zillerthal bei Schmiedeberg zurückgezogen, um dort stadtmüde, bereits angeschlagen, doch folgsam auf Rat des Familienarztes Dr. Delhaes »andere Luft« zu suchen. Vergeblich saß er über den letzten Kapiteln, zweifelte an jedem Wort, zweifelte an sich. Jemand riet, sich in Breslau einer neuen Methode, dem Elektroschock, anzuvertrauen. Auch diese Strapaze brachte nichts außer Kosten. Verzweiflung, die noch beim fiebrigen Fonty
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