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Ein weites Feld

Ein weites Feld

Titel: Ein weites Feld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Günter Grass
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komisch. Richtig schüchtern war der, jedenfalls anfangs. Na klar, war Liebe auf ersten Blick, da fragt man nich viel. Und als es dann aus war und wir nischt mehr hatten, grad noch das Dach überm Kopf, da kam er zurück. Abgerissen und ausgehungert. Hat sich aber trotzdem bißchen gefreut über das Kind. War immer noch Liebe, och jetzt noch. Denn was wir durchgemacht haben die schlimmen Jahre lang, das haben wir gemeinsam, sowas verbindet. Aber erst mal, als er aussein Krieg kam, hat er sich hinlegen gemußt. Tante Pinchen hat ihn gepflegt, weil ich meist im Tiergarten mit dem Bollerwagen auf Holzsuche … War schlimm mit ihm. Nicht nur die Schwäche. Sowas wie jetzt hat er gehabt: richtiges Nervenfieber. Hat lang gedauert. Ich mußt ja auf Arbeit, zuerst Trümmer wegräumen, dann als Tippse beim Wohnungsamt. Mit der Reichsluftfahrt, wo ich bis zuletzt war, war es ja nu vorbei, aber die Wohnung hatten wir bald ganz für uns, weil sechsundvierzig in dem schlimmen Winter Tante Pinchen starb und ich wieder schwanger … Nach vorne raus warn da anfangs keine Fensterscheiben mehr, nur Pappe. Und undicht vom Dach war es och. Und in dem schlimmen Winter nischt zu heizen. Aber immerhin war es ne Bleibe, weshalb wir nich nachem Westen rübergemacht haben, wo erst in Hannover, dann in Hamburg die einzige Schwester von meinem Wuttke – ja, die hieß Lise Neiffert, ihr Mann is in Rußland geblieben – ne kleine Papierwarenhandlung betrieben hat. War ne kinderlose Ehe. Deshalb hat sie mir och nich die Jungs zurückgeschickt, als alle drei bei ihr auf Besuch warn und denn dablieben, weil hier die Mauer kam, und alles war dicht hinterher. Aber eins muß man ihr lassen, Lise hat gesorgt für die Jungs: Teddy is Beamter in Bonn, Ministerialrat … Friedel hat ne Buchhandelslehre gemacht und nennt sich in Wuppertal nu Verlagsleiter … Und unser Georg wär heute, wenn das mit dem Blinddarm nich passiert wär, bestimmt Major, wo er doch schon Anfang siebzig Starfighters ausgebildet hat und wir deshalb … Gott, was haben wir nich alles versucht: Briefe und Telegramme. Ich wollte rüber und die Jungs zurückholen, durft aber nich. All die schlimmen Jahre lang durft ich nich. Aber als das passierte, wurde mein Wuttke krank, auf der Stelle. Wieder mal Nervenfieber … Kein Arzt konnt helfen … Wurde schlimmer und schlimmer … Na ja, das kennen wir schon …«
    Jedesmal wenn sich Fontys Lage zuspitzte, was zumeist vor dem Hintergrund einer politischen Krise der Fall war, wurde er krank oder rettete sich in Krankheit, wie Emmi Wuttke behauptete. So muß es gewesen sein, als er 51, gleich nach dem fünften Plenum des ZK, seine Stellung als Grundschullehrer verlor: wegen negativfeindlicher Äußerungen zur damals verordneten FormalismusDebatte; ähnlich reagierte er bald nach dem Arbeiteraufstand, als ihm sein Vortrag über die achtundvierziger Revolution, samt Titel »Gegen Demokraten helfen nur Soldaten«, zusammengestrichen wurde. »Vier Wochen lang war er uns bettlägerig«, sagte Emmi. »Und kaum war die Mauer da und die Jungs drüben im Westen, hat er sich wieder langgelegt. Wieder vier Wochen. Und immer waren die Nerven kaputt.« Gleichfalls nervenfiebrig legte er sich zu Bett, als er sich mit überspitzten politischen Nebenbemerkungen um die Position eines Kreissekretärs gebracht und dann den »Kulturkrempel« ganz und gar hingeschmissen hatte. Und wie er den Wechsel vom Vortragsreisenden zum Aktenboten bettlägerig überbrückt hat, so warf ihn nach jüngster Krise nicht nur die verpatzte Schottlandreise aufs Krankenlager, sondern auch der Zerfall des Arbeiter- und Bauern-Staates, an dem er hing, den er sich altpreußischer gewünscht hatte, dem er aber dennoch angehörte und dessen Geschichte vierzig Jahre lang seine Geschichte gewesen war, mitsamt gedoppeltem Vormärz, wiederholten Karlsbader Beschlüssen und anhaltenden Abhängigkeiten. Jedenfalls mischte sich all das in seinen Fieberphantasien. Mal lag er unruhig, dann wieder apathisch. Schubweise redete er vor sich hin oder verfiel atemlosem Schweigen; wie tot sah er aus. Emmi Wuttke konnte damit umgehen. Als sie uns nach dem Kaffeetrinken noch einmal ins Krankenzimmer ließ, sagte sie: »Na klar! Das war zuviel auf einmal. Erst heißt es, bald ist Schluß mit Aktenbote, weil nämlich die Einheit kommt und der Laden dichtgemacht wird sofort, und dann will er weg, einfach verduften, aber das klappt nich. Und nu liegt er lang und fummelt immer am Ring rum, aber kriegt den

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