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Ein weites Feld

Ein weites Feld

Titel: Ein weites Feld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Günter Grass
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Schleifen; so finden sich auf dem uns vorliegenden Blatt, etwa bei dem Wort »Quatsch«, nicht nur beim h im abschließenden sch, sondern auch beim langen s keine dieser auf Triebhaftigkeit verweisenden Unterlängen. Vielleicht bestätigt sich so die Kritik des ältesten Sohnes, auf die der Vater in einem Brief an Emilie eingeht: »Was George schreibt, ist sehr nett, daß ich keine Liebhaber schildern kann, ist nur allzu wahr. Aber wer kann alles?« Die Tintenschrift des Unsterblichen fällt, im Vergleich mit der Bleischrift, durchweg ornamentaler aus. So besteht das große M bei den brieflichen Anreden »Meine liebe Frau« und »Liebe Mete« aus zwei nach unten gezogenen Schleifen und einer Schleife, die schräg nach oben weist. Alle normalerweise schüsselförmigen Bögen überm kleinen u sind annähernd zum Kreis geschlossen, indem ihre minimalen Durchlässe mal nach oben, mal nach unten, dann wieder nach dieser oder jener Seite offenbleiben. Insgesamt fällt das kleine u in Bleistiftschrift noch beliebiger und oft kreisrund aus; deute wer will diese Abkapselungen. Strebt der Tintenzug hier witzig ausholend, dort forsch auf den Punkt oder auf eine Pointe zu, eilt die bleierne Schrift in nervöser Hast, als müsse sie Wortfetzen, aufgeschnappt in der Pferdebahn, im Café Josty oder bei Stehely mitgehörtes Tischgeplauder, auch beim abendlichen Spaziergang – die Linden rauf, die Linden runter – hängengebliebene Wechselrede notieren, bevor sie verklingen; dabei hat der Ohrenzeuge das meiste im Zimmer, beim Hin und Her auf dem türkischen Teppich gehört. All das gilt gleichermaßen für Fontys Schrift. Wenn der Unsterbliche seinem Freund Lepel einen Brief, der Zweitgeborene seinem altvertrauten Kumpan einen Bericht schreibt, jener über gleichbleibende Geldsorgen klagt oder die letzte Tunnellesung auf- oder abwertet, dieser die literarischen Manifeste und poetischen Skurrilitäten der Dichter vom Prenzlauer Berg mit mildem Spott schont und dabei seinen Adressaten dringlich vor staatssicherndem Zugriff warnt, beweisen sich die Unterlängen beim h oder beim doppelten s als deckungsgleich; so auch die ornamentalen Abschweifungen und die sich willkürlich kringelnden Bögen des kleinen u, gleich, ob sie mit Stahl- oder Schwanenfeder geschrieben sind. Dennoch bezweifeln wir, daß eine nur nachgemachte Schrift vorliegt. Eher könnte fortgesetzte Schreibe vermutet werden, denn eine mit Blei gekritzelte Manuskriptseite der »Kinderjahre« verhält sich zwillingshaft zu den mit russischgrün lackierten Bleistiften vollgekritzelten Blättern. Die gleiche Eile. Diese drängend nervöse Hast. Diese dem inwendigen Reden abgelauschten Notate. Zwei alte Herren, die sich beschleunigter erinnern, als ein Bleistift nachvollziehen kann. Zwei von längerer Krankheit genesende Greise, die ihr heimlichstes Versteck, sommerliche Gewitter und winterliches Eistreiben, ihre der Weihnachtsbescherung zu nahen Geburtstage, kartenspielenden Sonntagsbesuch und schließlich ihre Lieblingslehrer aus Knabenjahren vor sich haben.
    Wenn der erstgeborene Greis dem Swinemünder Hauslehrer Dr. Lau, der ihn zum ersten Geburtstagsgedicht ermunterte – »Lieber Vater, Du bist kein Kater, Du bist ein Mann, der nichts Fettes vertragen kann …« –, zum Abschied nachsagt: »Ich liebte Dr. Lau ganz aufrichtig, mehr als irgendeinen anderen Lehrer, den ich später gehabt habe; trotzdem brachte mich meine verdammte Komödianteneitelkeit um jedes richtige Gefühl für den Mann, dem ich soviel verdanke …«, ist dem zweiten Greis ein Nachruf mit eiligem Bleistift – und deshalb reduzierten Unterlängen dringlich: »Von allen Lehrkräften am Neuruppiner Gymnasium ist mir einzig Dr. Elssner deutlich geblieben, weil dieser es verstand, beim Deutschunterricht mit geschichtlichem Zitat und beim Geschichtsunterricht mit literarischen Belegen die unsinnige Trennung dieser Fächer aufzuheben. Elssner, den wir, ob seiner pädagogischen Methode, als ›Zeitraffer‹ verspotteten, konnte weit Entlegenes wie die Völkerwanderung durch Felix Dahns Ostgotenschmöker ›Ein Kampf um Rom‹ und die sozialen Zustände im vorindustriellen Deutschland durch Hauptmanns ›Weber‹ so nah zueinanderrücken, daß ich seitdem jenes zeitraffende Verständnis von Literatur und Geschichte habe, das mir Vergangenes in zukunftstrunkene Präsenz, das heißt die Unsterblichkeit gewiß macht; weshalb man, beiläufig gesagt, die selten gewordenen Immortellen, die in ›Irrungen,

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