Ein weites Feld
Einklang mit den Zweideutigkeiten seines Vorbilds zu begreifen; während der Unsterbliche bis ins hohe Alter in Briefen und zu Hause bei Tisch Freiheitsliebe beteuerte, ertrug er zugleich stummen Frondienst unter jeweils herrschender Ordnung und kam deshalb zu einem nicht nur den Polenkrieg aburteilenden Befund, dem damals Tallhover und gegenwärtig Hoftaller hätte zustimmen können: »Ein Zwergensieg gegen Riesen verwirrt mich und erscheint mir insoweit ungehörig, als er gegen den natürlichen Lauf der Dinge verstößt.« Und weil Polen immer wieder verloren war oder – den Riesen zum Trotz – bis heutzutage noch nicht verloren ist, erinnerte sich Fonty, seiner Rolle getreu, an visuelle Bestätigungen der auf Neuruppins Bilderbögen abgeklatschten Großereignisse; was der Zehnjährige in Swinemünde auf Guckkastenformat verkleinert gesehen hat, entsprach jenen beweglichen Bilderfolgen, denen der zehnjährige Theo Wuttke im Neuruppiner Kino von Wochenschau zu Wochenschau ausgesetzt war: Er sah den schwarzen Börsenfreitag mitsamt seinen aufgeregt zappelnden Männlein in New Yorks Wallstreet, er hörte und sah Polens heldischen Marschall Pilsudski und Mussolinis gestenreiche Balkonreden, er war Zeuge der senilen Ehrwürdigkeit des greisen Reichspräsidenten Hindenburg, er ließ sich durch robust jugendliche Wettkämpfe und von stupidem Willen vorangetriebene Aufmärsche hinreißen, denn den schwarz und braun eingekleideten Kolonnen, die von Jahr zu Jahr mehr die Wochenschau in Bewegung hielten, gehörte die Zukunft. Und als die Olympiade in Los Angeles – Fox tönende Wochenschau lang - die Jugend der Welt versammelte, entsprach das jenem Völkerfrieden, den auch die Heilige Allianz von Metternichs Gnaden im Sinn gehabt haben mochte. Dem wiederholten Freiheitskampf der Polen, wie er auf Neuruppiner Bilderbögen koloriert war, gab eine Wochenschau Antwort, die mit indischen Massenszenen Gandhis gewaltlosen Widerstand gegen die britische Kolonialmacht einfing. Dazu fand Fonty ein passendes Zitat: »Bei aller militärischen Überlegenheit des Empire, stellt sich dennoch die Frage: ›Wer ist hier Riese, wer Zwerg?‹«
Danach lief er wieder die rotchinesische Teppichbrücke ab, um nach gut hundert Metern Wegstrecke das Portrait des Swinemünder Hauslehrers Dr. Lau dem Portrait seines Lehrers zu konfrontieren: Lau kam genauso gut weg wie Studienrat Elssner. Und mit der Begutachtung dieser und anderer Pädagogen war eine Innenansicht des einst neuen, dann alten Gymnasiums fällig, das 1791, bald nach dem großen Brand der Stadt Neuruppin, eingeweiht wurde. Natürlich mußte auch diese Feuersbrunst beide Kinderjahre ausleuchten, schließlich verdankte die Stadt dem Flächenbrand sauber umbaute Exerzierplätze, gradlinige Paradestraßen und außer dem Rathaus und der Schinkelkirche jenes durch einen nur kurzfristig dort leidenden Schüler berühmt gewordene Gymnasium von klassizistischer Strenge, dessen Portal gegenüber einst König Friedrich Wilhelm als Denkmal gestanden hatte und viel später, an Königs statt, eine überlebensgroße Karl-Marx-Büste aus schwarz nachdunkelnder Bronze eingeweiht worden war. »Die steht dort gegenwärtig«, schrieb Fonty, »nur noch auf Abruf, wie so viele Denkmäler, denen von Staats wegen Dauer versprochen wurde.« All diese Zeitsprünge gingen ihm zügig von der Hand. Nur wenn der Bleistift gespitzt werden mußte, unterbrach er den Schreibfluß. Nach drei, vier Teppichläufen und folgenden Niederschriften fielen hölzerne Locken in die offene Zigarrenkiste kubanischer Herkunft, dazu jedesmal eine Prise Bleistaub jetzt, Mitte August, stand eine aufblühende Dahlie in der gläsernen Vase.
Wir wollen hier einhalten und einen Vergleich wagen. Fonty schrieb, ob mit Bleistiften, Stahl- oder eigenhändig zugeschnittenen Schwanenfedern, jene Schrift weiter, die nunmehr seit über fünf Jahrzehnten im Archiv gehütet wird und die, ihrem Schriftbild nach, gedeutet werden sollte. Wir sind keine Graphologen und können, bei aller archivalischen Gründlichkeit, nur laienhaft auslegen, was uns kalligraphisch als Brief oder Manuskriptseite vorliegt; dennoch sei ein Versuch gewagt. Besonders fallen bei der Tintenschrift die schleifigen oder – beim doppelten s nach damaliger Schreibweise – alle von oben nach unten gezogenen Abstriche wegen ihrer Unterlängen ins Auge. Flüchtigem, wie von Eile diktiertem Bleistiftgekritzel gelingen nur selten offene, mit angeblicher Sinnenlust ausschweifende
Weitere Kostenlose Bücher