Ein weites Feld
Sohnes journalistische Fron und dessen Anstrengungen zugunsten preußischer Kraftakte.
Als Fonty im Juli 1961 zum letzten Mal seinen Vater in der Kellerwohnung der noch immer kriegswüsten, weil in den oberen Stockwerken ausgebrannten Grunewaldvilla besuchte, ahnte er nicht, daß der Bau der Berliner Mauer bevorstand und welch anhaltende Trennung dieses verschämt zum Schutzwall ernannte Bauwerk für Vater und Sohn zur Folge haben würde. Sie begrüßten sich heiter. Und der Kaninchenzüchter sprach den Kulturbundreisenden als »Junior« an. Doch für die wechselnden Vorträge seines kulturaktivistischen Sohnes hatte der ehemalige Steindrucker nur milden Spott und für den »drüben« praktizierten Sozialismus allenfalls Hohn übrig. »Das nenne ich puren Staatskapitalismus«, sagte der Alte, der in den ersten Jahren nach Kriegsende Erfahrungen mit der Einheitspartei gemacht hatte. Seine versuchte Rückkehr nach Neuruppin wurde ihm übel ausgelegt; »parteischädigender Sozialdemokratismus« hieß sein Verbrechen; nur Flucht konnte ihn vor einem längeren Aufenthalt im ehemaligen und weiterhin drohenden KZ Buchenwald bewahren. Inzwischen war der alte Wuttke Mitte Sechzig und litt, außer an geschwollener Leber, unter asthmatischen Beschwerden wie des Unsterblichen Vater, der bald nach dem Besuch seines Sohnes im darauffolgenden Oktober gestorben war, während Fontys Vater zwei Jahre nach dem Mauerbau davonging, um sich, nach gärtnerischer Redeweise, »die Radieschen von unten anzusehen«; seiner Fixierung auf Napoleon entsprechend, hatte der Schweinezüchter im Oderbruch den bevorstehenden Tod als »Abberufung in die Große Armee« vorausgesagt. Damals gab es zur Abwechslung keinen Schweinebraten, sondern Kalbsbrust, die die »Haushälterin«, um den ermüdeten Kreuzzeitungsredakteur zu erfreuen, im Eisentopf geschmort hatte. Dazu kam Rotwein in zwei Pokalgläsern, die noch aus Swinemünder Zeiten geblieben waren, auf den Tisch. Die stumme »Altersgenossin« dagegen holte am Abend einen Kaninchenbraten in Sahnesoße aus dem Ofen. Dazu gab es thüringische Kartoffelklöße; sie stammte aus dieser waldigen Gegend. Getrunken wurde Birnensaft. Plauderte der Schweinezüchter nach dem Essen von der Pariser Weltausstellung, als hätte er sie kürzlich besucht, und danach, wie bei jedem Besuch des Sohnes, von Napoleons Marschällen – »Weißt du noch? Lannes und Latour d’Auvergne und Michel Ney, wie sie ihn im öden und einsamen Luxembourg-Garten an die Wand stellten …« –, erzählte der Kaninchenzüchter zum Nachtisch, Rhabarberkompott, noch einmal von Neuruppiner Saalschlachten mit der SA und anschließend davon, wie es kurz vor 33 beim berüchtigten BVG-Streik zugegangen sei: »Eine Schande! Klumpfuß und Spitzbart an einem Tisch. Kommune und Nazis gemeinsam gegen uns Sozialdemokraten. Das war zuviel. Unser Widerstand erlahmte. So kam es, daß schließlich Arbeiter gegen Arbeiter standen …« Beiden Vätern waren nur noch die alten Geschichten wichtig. »Ich lerne nicht mehr dazu«, sagte der eine, und der andere sagte: »Komm da nicht drüber weg.« Beide hörten den beruflichen Plänen ihrer Söhne zerstreut oder mit Ungeduld zu: Was kümmerten sie journalistischer Schweiß, vergossen für eine reaktionäre Zeitung, oder die Vorträge eines Kulturbundreisenden, der zuließ, daß ihm die kritischen Spitzen seiner sonst der Parteilinie folgenden Ausführungen von der Zensur gekappt wurden. Das war ihnen Kleingehacktes: ehrenwert, aber unnütz. Beide Väter hatten schließlich Weltsysteme im Sinn, die jeweils größere Gerechtigkeit, kommende Freiheit und soziales Glück verhießen. Und ihre immer um Zuwachs und Fortschritt bekümmerten Gedanken, die nie zur Ruhe kamen, fanden in der gutmütigen Haushälterin und der stummen Altersgenossin willige Zuhörerinnen, man mußte sie nur aus der Küche rufen; doch zum Gespräch kam es nie. »Und wenn dann die beste Stelle kommt und ich sage: ›Die Verhältnisse machen den Menschen, nicht wahr, Luise?‹, dann fährt sie zusammen oder sitzt da wie ein Holzpfahl …« – »Aber meine Gundula nickt immer nur stumm und mag dabei an ihre eingelegten Essiggurken denken, wenn ich ihr frei nach Bernstein die evolutionäre Methode der Menschheitsverbesserung erkläre: ›Der Weg ist alles, und das Ziel ist nichts …‹«
So baute Fonty beiden Vätern ein Denkmal. Mit eiligem Bleistift entwarf er sie überlebensgroß und stellte sie gemeinsam auf einen Sockel. Er liebte sie
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