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Ein wilder und einsamer Ort

Ein wilder und einsamer Ort

Titel: Ein wilder und einsamer Ort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcia Muller
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Kontakt
zu einigen Familienmitgliedern, wie ich zu meinem Bruder John und meiner
Schwester Charlene, und entfernt sich allmählich von anderen, wie ich von
meinem Bruder Joey und meiner Schwester Patsy. Aber ich wäre nicht im Traum auf
die Idee gekommen, daß Ma und Pa sich von uns entfernen könnten.
    Vielleicht war das ja der Grund,
weshalb ich mich mit solcher Verve in die Nestbauaktivitäten in Bootlegger’s
Cove gestürzt hatte. Neue Strukturen schaffen, ein neues Heim gründen. Und es
spielte wohl auch mit, daß etliche meiner alten Freundschaften bei All Souls
und anderswo allmählich einschliefen. Ich konzentrierte mich jetzt auf das
Erprobte und Bewährte: Hank und seine Frau Anne-Marie, Rae, Ted, Adah. Und
natürlich Hy...
    Meine Hand wanderte wieder zu dem
Airfone. Hy übernachtete heute in der Gästesuite von RKI; ich konnte ihn
anrufen, ihm sagen, daß ich mir Sorgen um Adah machte, ihn bitten, nach ihr zu
schauen...
    Nein, er brauchte seinen Schlaf. Er
würde morgen in die Dominikanische Republik fliegen und dann über die Grenze in
das gewaltgebeutelte Haiti Vordringen, um den Dissidenten herauszuholen.
Kinderspiel, hatte er gesagt, und ich hatte es ihm keine Sekunde geglaubt.
    Der Gedanke an die Gefahr, in die er
sich begab, ließ mich erschauern und die Was-wenns in meinem Kopf kreisen.
    Um sie zu verscheuchen, lehnte ich mich
zurück, schloß die Augen, horchte auf das Dröhnen der Triebwerke. Sofort
begannen Bilder auf den Innenseiten meiner Lider zu flimmern.
    Habiba, die auf dem Beifahrersitz des
MG saß und bettelte, daß ich mit ihr spazierenfuhr — ein einsames kleines
Mädchen, das sich Sorgen um seine Mutter machte und seinen Vater vermißte.
Mavis, die vor ihrem Kamin eine Patience legte — eine einsame, unglückliche
Frau, die sich nach den Zeiten zurücksehnte, als sie Gedichte geschrieben
hatte. Mavis, bäuchlings im Wasser treibend, für immer verstummt. Langley
Newtons Gesicht, während er sagte: »Ich hasse Männer, die glauben, mit Frauen
könnten sie alles machen.« Eric Sparlings Gesicht, während er sagte: »Ich hoffe
nur, Sie erwartet dort nicht dasselbe Schicksal wie Hamids Frau.« Und Habibas
dunkle Augen — was sie dort im Bootshafen gesehen haben mußten, was sie jetzt
womöglich sahen.
    Ich riß die Augen wieder auf. Alle
diese Bilder drückten eine unsägliche Einsamkeit aus.
    Vielleicht war es ja nur das Flugzeug:
so riesig im Vergleich zu der Citabria, so voller fremder Menschen. In der
Citabria war ich durch eine endlos weite, wunderschöne Welt geflogen, nur von
meinen Grünschnabelinstinkten geleitet, und hatte mich kein bißchen einsam
gefühlt. Aber hier, in dieser 767, fühlte ich mich wie in einem fernen
Satelliten.
    Einsam hier oben. Dort unten manchmal
auch.

 
     
     
     
     
    Zweiter Teil
    Auf den Leeward-Inseln

23.-25.Mai
     
     
     

15
    Es war nieselig und schwül, als wir auf
dem Prinzessin-Juliana-Flughafen auf St. Maarten landeten. Das kleine gelbe
Flughafengebäude schien eine Zeitinsel zu sein — tatsächlich war die
Kronprinzessin der Niederlande inzwischen längst von ihrer Tochter auf dem
Thron abgelöst worden. Wir verließen das Flugzeug über eine Treppe statt über
eine Fluggastbrücke und gingen über Asphalt, von dem Dampfschwaden aufstiegen.
Bis ich die Einreiseformalitäten hinter mir hatte, klebte das leichte T-Shirt,
das ich bei der kurzen Zwischenlandung in St. Juan angezogen hatte, schweißnaß
an meinem Rücken. Ich eilte nach draußen und fand mich von einem Schwarm
Taxifahrer umringt.
    Ein langer, schokoladenhäutiger Mann
mit einer Dodgers-Kappe sprach mich als erster in einem leisen, französisch
getönten Englisch an. Ich nannte ihm Cant Connors’ Adresse in der Rue de la
Liberté in Marigot; wir einigten uns auf einen Preis und starteten in einem
roten Toyota Celica, der von einem harten Arbeitsleben gezeichnet war. Obwohl
ich nach St. Martin, dem französischen Teil der Insel, wollte, erläuterte mir
der Fahrer, der Kenny hieß, die Vor- und Nachteile der verschiedenen Hotels und
Restaurants, die sich um den Flughafen scharten. Dieser Monolog — überwiegend
in längst überholtem amerikanischem Slang — entspannte mich, weil ich nicht wirklich
zuzuhören brauchte und, wichtiger noch, weil er bewies, daß meine
Touristinnenverkleidung überzeugend war. Ich sah aus dem Seitenfenster auf die
pastellfarbenen Hotelkästen, die hinter einer silbergrauen Lagune aufragten,
und dann zu den wolkenverhangenen Bergen im Inneren

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