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Ein wilder und einsamer Ort

Ein wilder und einsamer Ort

Titel: Ein wilder und einsamer Ort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcia Muller
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passierten wir ein Schlacksteinhaus, aber die
meisten sahen ziemlich verfallen aus. Eine winzige Ansiedlung mit einer
Tankstelle, einem Einkaufsmarkt und einem Gasthaus avisierte sich auf einem
verblichenen Schild stolz als Altagraciaville, Hauptstadt der Republik Jumbie
Cay. Mein Begleiter sagte nichts weiter dazu, und ich tat es ihm nach.
    Die Nacht war jetzt wieder dampfig und
voller Insekten. Das Spray von vorhin hatte längst zu wirken aufgehört, und die
Biester bohrten ihre Stacheln durch den Stoff meines geborgten Hemds. Mr.
Altagracia schienen sie nicht weiter zu stören; wenn man sein ganzes Leben hier
verbrachte, entwickelte man wohl eine Art Immunität.
    Als wir in ein besonders tiefes
Schlagloch krachten und mir ein unwillkürlicher Laut entfuhr, sagte der alte
Mann: »Als ich die Briten von meiner Insel vertrieben hatte, übernahm ich die
Verantwortung für die Instandhaltung der Straßen. Ich habe Mr. Schechtmann
mitgeteilt, daß diese Verantwortung mit dem Verkauf auf ihn überging. Sie sehen
ja, wie ernst er sie nimmt.«
    »Ich spüre, wie ernst er sie nimmt.«
    »Wir sind jetzt ganz in der Nähe des
Anwesens. Sie kennen das Terrain ja von den Bildern, die Ihnen meine Tochter
gezeigt hat.« Die gerahmten Fotos an Reginas Wänden waren für mich von
unschätzbarem Wert gewesen. »Ich denke schon. Das Anwesen liegt auf einer
Anhöhe, und der Strand darunter bildet eine sichelförmige Bucht mit einer
Steinmole an jedem Ende. Hinter der westlichen Mole liegt ein weiterer Strand
mit Felsen, zwischen denen bei Ebbe Wassertümpel zurückbleiben. Jetzt ist
Niedrigwasser, heute nachmittag um halb fünf war dieser Strand überflutet.«
    »Gut.«
    »Wie kommt man vom Anwesen zum Strand?«
    »Das braucht Sie nicht zu kümmern.«
    »Aber Habiba...«
    »Ja, verstehe. Die Gebäude... Warten
Sie, wir sind fast da, Sie werden es gleich sehen.«
    Mein Magen krampfte sich zusammen. Ich
preßte die Hände auf die Oberschenkel, als könnte ich so die aufsteigende
Spannung untenhalten. Gleich würde ich Klaus Schechtmann und Dawud Hamid
gegenüberstehen. Gleich würde ich die Kleine sehen.
    Im Geist beschwor ich sie: Erinnere
dich. Bitte erinnere dich.
    Wir fuhren um eine scharfe Kurve, und
dann sah ich schimmernde Brandungswellen. Gebäude kamen in Sicht: weiß, kantig
und keilförmig, die breiteren Enden aggressiv zum Meer hin gerichtet. Die
Seiten- und Rückfronten waren monolithisch, mit kleinen Türen und ohne Fenster.
Das größte Gebäude thronte oben auf der Anhöhe, und eine Serie kleinerer Kopien
staffelte sich treppenförmig bis auf Strandniveau herab.
    Zebediah Altagracia sagte: »Im
Hauptgebäude befinden sich das Wettbüro und gemeinschaftliche Wohn- und
Eßräume. Die kleineren Gebäude sind Schlafbungalows. Sie liegen am Hang, und
auf der Frontseite führt ein Fußweg zum Strand hinunter. Von dort ist es nur
ein kurzes Stück zur westlichen Mole.«
    Ich nickte, studierte die Anlage.
    Eine Steinmauer von etwa drei Metern
Höhe umgab das Anwesen; neben einem Zufahrtstor stand ein Wachhäuschen. Mr.
Altagracia bremste den Jeep ab und betätigte die Lichthupe; der Wächter öffnete
rasch das Tor, aber wir streiften es trotzdem mit der Stoßstange, als der alte
Mann ungeduldig aufs Gas trat.
    »Idioten«, knurrte er. »Wer soll denn
schon hier einbrechen wollen? Die Leute, die für sie arbeiten, sind doch
heilfroh, wenn sie wieder draußen sind.«
    Die Zufahrt war von hohen Kokospalmen
gesäumt; trotz ihrer Größe schienen sie erst kürzlich hierher verpflanzt worden
zu sein, und auch der Rest der Anlage wirkte neu und unfertig.
    »Noch so eine Schnapsidee«, sagte Mr.
Altagracia und deutete auf die Palmen. »Klaus hat die ausgewachsenen Bäume
hierher verfrachtet und einfach in irgendwelche Löcher geknallt, ohne sich um
die Bodenbedingungen zu kümmern. Sie sehen jetzt schon krank aus, und bis
Weihnachten sind sie hin.«
    »Schechtmann hat die Anlage entworfen?«
    »Er hat einen teuren Architekten aus
den Staaten eingeflogen, der keine Ahnung von der Karibik hat. Schauen Sie sich
diese Bauten an: luftlose Beleidigungen fürs Auge, Warzen auf dem Gesicht
dieser Insel. Und jetzt kreiert sein Landschaftsarchitekt ähnliche
Scheußlichkeiten — ganz davon abgesehen, daß eine Menge kerngesunder Pflanzen
und Bäume dafür sterben mußte.«
    Als wir uns dem Haupthaus näherten,
mußte ich ihm recht geben. Die Keilform wirkte, zumindest aus dieser
Perspektive, klobig und unschön. Während wir ausstiegen und zu

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