Ein wildes Herz
ihren Namen im gleichen Atemzug wie eine Geldsumme und einen Traktor. Nehmen wir einmal an, dass sie in diesem Moment endgültig begriff, welche Last auf der Sache lag, und dass sie den Gedanken nicht mehr ertragen konnte, wie viel Elend, ja vielleicht sogar den Tod, ihr eigenes Glück möglicherweise verursachen könnte.
Nehmen wir einmal an, er lud sein Gewehr und steckte ihr die Mündung dieses Gewehrs in den Mund, und dabei würgte er sie mit seiner dicken, starken Hand am Hals, aber dann hörte er auf, weil ihm bewusst wurde, wenn er sie umbrachte, würde er seinen wichtigsten Besitz verlieren, während man, wenn er Charlie tötete, bloß sagen würde, er habe das geschützt, was ihm sowieso schon gehörte, und seine Pflicht getan, indem er eine Art Männlichkeit an den Tag
legte, die ihm bislang abgegangen war. Nehmen wir einmal an, er sei mit dem Gewehr in der Hand aus dem Haus getreten, als sie etwas hervorstieß, das ihn aufhielt, und dass sie sich dann neben ihn in den Wagen setzte, während er sie zu Sheriff Straub hinüber fuhr.
Zwischen Skylla und Charybdis. Doch wenn Skylla die Vertreibung war und das langsame, elende Sterben ihrer ganzen Familie, und Charybdis der plötzliche, schnelle Tod ihres Liebhabers, dann musste Sylvan sich jetzt wohl entscheiden. Sie traf die Entscheidung, und es brach ihr das Herz und löschte jegliches Licht in ihr aus, aber das hätte jede Entscheidung, ganz gleich, wie sie ausgefallen wäre, mit ihr gemacht.
Später sagte Straub vor Gericht, sobald er seinen Sheriffstern angesteckt und sich bereit gemacht hatte, habe sie schon vor ihm gestanden und ohne zu zögern mehrfach gesagt: »Ich bin Mrs. Harrison Glass, und ich wurde von Charlie Beale vergewaltigt.« Und sie blieb bei dieser Aussage, ohne mit der Wimper zu zucken, ohne rot zu werden oder ins Stottern zu geraten, während Straub ihr all die Fragen stellte, Fragen, die in Brownsburg noch nie gestellt worden waren. Sie sagte ihm, wo, und wann, und wie oft. Sheriff Straub hatte bereits gehört, was alle über Charlie und Sylvan gehört hatten, und er bezweifelte, dass ihre Aussage, so überzeugend sie auch dargebracht wurde, in irgendeiner Weise der Wahrheit entsprach. Doch er sah, dass Sylvan Glass sehr, sehr große Angst vor etwas hatte. Und er wusste auch, dass Harrison Glass Harrison Glass war und dass ihre Geschichte deshalb für bare Münze genommen werden musste, und was er auch wusste, war, dass dann zwangsläufig etwas in dieser Sache unternommen werden musste.
25. KAPITEL
C harlies Bruder tauchte aus dem Nirgendwo auf. Ned Beale war ein einundzwanzigjähriger Zimmermann, ein ungelenker junger Mann, recht gutaussehend, mit einem Kopf voller dicker, blonder Haare, obwohl sein Bart noch so weich war wie der Flaum im Nacken einer Frau. Sowohl an Größe als auch an Gewicht hätte er Charlie kaum weniger ähneln können. Dennoch verfügte er über die stählerne Kraft seines Bruders, hatte Hände, die ebenso fest zupacken konnten, und wie sich herausstellte, auch einen ebensolchen Hang dazu, Hals über Kopf ins eigene Verderben zu rennen.
Charlie schickte ein Telegramm per Western Union, was damals eine übliche Methode war, anderen mitzuteilen, dass man in Schwierigkeiten oder in Geldnot steckte, und oft kam auch jemand. Ned kam. Von wo, das wusste – ebenso wie bei seinem Bruder zuvor – niemand.
Es ist schrecklich, einen Menschen zu sehen, dem man das Herz gebrochen hat und dessen Geist auf unwiderrufliche Weise zerrüttet ist. Wir wenden uns ab. Wir suchen nach einem glücklicheren Gesicht. Aber nicht Ned. Ned kam nach Brownsburg und ließ sich in dem kleinen Haus nieder, das alles war, was Charlie geblieben war, und er
kochte ihm die Mahlzeiten, die sein Bruder nicht aß, und räumte die schmutzige Kleidung weg, die Charlie nicht schaffte zu waschen.
Jeden Tag in der Metzgerei war Charlie wie immer, immer noch freundlich und hilfsbereit und geschickt mit dem Messer, und all seine Kundinnen schickte er mit dem nach Hause, was er gut gelaunt als beste Mahlzeit bezeichnete, die sie je gehabt hatten. Doch man sah ihm an, was ihn das kostete, immer weiterzumachen, wo doch nichts, rein gar nichts mehr für ihn eine Bedeutung hatte.
Wenn man dir das Herz gebrochen hat und es keine sichtbare Wunde, keine Anzeichen für Krankheit gibt, was soll man dann auch tun außer weiterzumachen, zu tun, was die Leute von einem erwarten, und das zu erledigen, was nötig ist? Es nützt nichts zu sagen, dass es
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