Ein wildes Herz
gehütet wurde.
Er wusste instinktiv, dass es besser war, sie nicht mehr ins Gesicht zu schlagen. In jener ersten Woche, die sie zu Hause verbrachte, mit geschwollenem, grün und blau geschlagenen Gesicht, wurde ihm klar: wenn die Leute wüssten, dass er sie verprügelte, dann würden sie ihn nie mehr so ansehen, wie er sich das wünschte. Zwar schlugen eine Menge Männer um ihn herum ihre Frauen, doch diese Männer waren nicht Boaty Glass und die Frauen nicht Sylvan. Und so wurden seine Bestrafungen raffinierter und demütigender. Er schlug sie auf die Beine. Auf den Rücken, die Brüste.
Eines Tages fuhr er sie sogar bis nach Arnold’s Valley, zu dem Haus, in dem sie aufgewachsen war. Ihre Familie schaute sie an, als käme sie vom Mars, und sie blieben auch nur so lange, wie es nötig war, um Sylvan klarzumachen, was sowieso schon klar war: nämlich dass ihre Familie sie nicht wollte und umgekehrt sie auch nicht ihre Familie.
Charlie sah die blauen Flecken, die Striemen. Charlie wusste alles. Er hätte Boaty am liebsten umgebracht, sagte zu Sylvan, er würde es tun, doch sie redete es ihm immer wieder aus. Er schlief mir ihr, so wund geschlagen sie auch war, wobei er darauf bedacht war, ihr nicht noch mehr Schmerzen zuzufügen oder nur das geringste Unwohlsein. Er spürte, dass es ein geschädigtes und geschundenes Kind war, das da in seinen Armen lag. Er berührte ihre blauen Flecken mit den Lippen, als könnte sie das heilen und ihre Haut wieder unversehrt machen. Wenn er in ihr kam, weinte er, er schrie ob ihres Schmerzes, ihres Kummers, ihrer Demütigung. Und er verstand nicht, was sie davon abhielt, ihren Mann zu verlassen.
Sie verstand es noch weniger. »Verlass ihn«, sagte Claudie. »Du hast einen guten Mann, einen frommen Mann, einen Mann, der dich liebt und für dich sorgen wird. Warum hältst du dich dann noch mit diesem alten Deppen auf?«
»Ich kann nicht«, war alles, was das Mädchen dazu sagte. »Würde ich nie tun. Es gibt Gründe.«
»Sag’s mir. Sag mir die Wahrheit.«
»Wenn ich Boaty verlasse, dann geht er in mein altes Haus und schmeißt meine Familie raus. Sie können nirgendwo hin. Es würde sie umbringen.«
»Sie könnten doch bei dir und Charlie leben. Er würde für sie sorgen.«
»Das könnte er nicht. Das verstehst du nicht. Meine Mama ist nie irgendwo auf der Welt gewesen, hat nie einen Fuß aus dem Tal gesetzt. Mein Vater auch kaum. Diese Farm, dieses Tal – du bist da geboren, und du stirbst da. Wenn sie es jemals verlassen, ist ihr Leben vorüber. Wie ein Fisch, den man aus seinem Glas holt. Sie könnten die Luft nicht atmen. Ihre Füße würden keinen Halt finden.«
»Du bist doch auch dort weg.«
»Ich war schon weg, lange bevor ich damals gegangen bin. Ich war weg, als ich mit fünf Jahren anfing, Radio zu hören. Danach habe ich nie mehr dort gelebt. Hab nur so getan.«
»Aber du bist immer noch da. Du schuldest ihnen nichts. Sie sind erwachsen. Du musst an dich selbst denken. Und das Einzige, was du brauchst, ist er. Lass Glass haben, was er will.«
»Ich brauche nichts«, sagte Sylvan. »Ich brauche nicht mal Charlie Beale. Ich habe…«, doch dann konnte sie nicht sagen, was sie hatte, weil sie sich selber nicht mehr sicher war. Einige Schriftstücke in einem Umschlag unter einer Holzdiele auf dem Dachboden von Boaty Glass’ Haus? Was war das schon? Und was bedeuteten die Papiere wirklich?
Sie bedeuteten, dass sie etwas besaß, hatte Charlie ihr gesagt. Die Schriftstücke unter dem Dielenboden bedeuteten, dass sie frei war. Doch offensichtlich war sie das doch nicht. Besessen hatte sie nie etwas. Das Land, auf dem sie aufgewachsen war, das Land, auf dem ihr Vater jeden Tag arbeitete und sie auch – hatte es jemals ihnen gehört? Sie wusste es nicht. Und selbst wenn diese Schriftstücke bedeuteten, dass das Land ihr gehörte – was sollte sie denn damit anstellen? Bäuerin werden?
Sie vertraute niemandem außer Claudie. Wenn sie mit Charlie zusammen war, begriff sie, dass sie die Welt für ihn bedeutete, die ganze Welt, in genau dieser Stunde, während dieses Sonnenuntergangs. Aber danach? Da gab es ein Leben, das er getrennt von ihr lebte. Was machte er, wenn er nicht mit ihr zusammen war? Kam sie ihm überhaupt manchmal in den Sinn?
Sie dachte die ganze Zeit an ihn, doch es war sein Körper, an den sie dachte, seine physische Gestalt, die Art und
Weise, wie er sie in den Armen hielt, wie er sich auf ihr und in ihr bewegte. Sie dachte nicht an
Weitere Kostenlose Bücher