Ein wildes Herz
wehtut. Das weiß man sowieso, jeder kann es sehen, und jeder weiß auch, dass man selbst in einer Million Jahren nichts tun kann, um die Wunde in diesem Menschen, die Stelle, wo die Pein beginnt, zu berühren oder den Schmerz zu lindern.
Ned kannte seinen Bruder kaum. Er war noch ein Baby gewesen, als Charlie von zu Hause weggegangen war. Doch er war der Einzige, der an die Wunde in Charlies Herz herankam, in die Sylvan Glass Salz gestreut hatte. Ned sorgte dafür, dass Charlie den äußeren Schein wahrte, dass er sich rasierte, frische Kleidung anzog, ein wenig aß. Einmal versuchten sie, zu den Haisletts zum Essen zu gehen, doch es war peinlich und schrecklich, selbst der Junge war quengelig, und so wiederholten sie das Experiment nicht, sondern aßen nur belegte Brote zum Abendessen, die sie allein und ohne ein Wort verzehrten. Was gab es denn auch zu sagen, was für ein Thema hätte es geben können? Und darüber sprachen sie nicht, das wollte Charlie nicht, und sein jüngerer
Bruder wusste, dass es auch keinen Sinn hatte, ihn irgendwie dazu zu bewegen.
Statt zu reden ging Ned auf den Holzplatz, holte Werkzeug und Bretter und begann mit Reparaturen an Charlies Haus. Eine verzogene Diele an der Treppe. Ein wackeliger Balken an der Veranda. Er ging von Zimmer zu Zimmer, und was auch immer gerichtet werden musste, das richtete er. Und er machte es genau und sorgfältig, eine Arbeit, die lange halten würde. Seither hat an dem Haus nichts mehr gerichtet werden müssen, alles ist immer noch picobello in Ordnung.
Es war seine Art, seinem Bruder zu vermitteln, dass es eine Zukunft gab. Ned hatte niemanden, und er brauchte Charlie, brauchte einen Bruder, und so glaubte er daran und tat, was er konnte, um die Dinge wieder ins Lot zu bringen. Charlie würde nach Hause kommen, und es würde ein Zuhause sein, das lange halten sollte.
Die Leute sahen Ned kommen und gehen, und gelegentlich hatten auch sie Arbeit für ihn, die er zu ihrer vollsten Zufriedenheit verrichtete. Es war gute Arbeit, die Sicherheit und Trost schenkte. Wenn er nicht arbeitete und Charlie in der Metzgerei war, saß Ned am Küchentisch, trank Whiskey und zitterte.
Wenn er zu Hause war, redete Charlie nie von Sylvan. Von dem Tag an, als Sheriff Straub aufgetaucht war und ihm gesagt hatte, was gegen ihn vorlag, als er ihn in Handschellen von dem Baseballfeld abgeführt hatte, wo er die Jungs und Mädchen in die Kunst des Baseball einweihte, während die Zwillingsschwestern zuschauten, als Sheriff Straub ihn für eine Nacht ins Gefängnis sperrte, ehe eine Kaution festgesetzt worden war, die Will für ihn bezahlte, hatte er kein einziges Mal ihren Namen erwähnt.
Doch in seinen Träumen verzehrte sie ihn. Nacht für Nacht pickte sie an seinem Fleisch wie ein Falke an einem toten Reh, das am Straßenrand liegt, so lange, bis nur noch die Knochen übrig sind. Sein Tagebuch war noch immer mit ihrem Namen vollgekritzelt, Sylvan, Sylvan, wieder und wieder, doch wenn er sie zeichnete, dann war sie kein Engel mehr, der vom Himmel herabstieg, sondern ein Vampir, der sein Blut saugte, ihr hübscher Mund eine Fratze mit Fangzähnen, von denen das Blut tropfte, Zähne, die ihm Bissen für Bissen das Fleisch herausrissen, bis er nur noch ein Skelett und der Schatten seines früheren Ichs war. Verschwunden waren das Rosa und das Violett, die er benutzt hatte, um ihre Schönheit zu Papier zu bringen, und es gab auch keine zarten, behutsamen Linien mehr. Seine Zeichnungen hatten die Farbe getrockneten Blutes.
»Du musst dir einen Anwalt nehmen.«
»Ich muss gar nichts, Ned.«
»Was ist die Wahrheit? Was ist wirklich passiert?«
»Was passiert ist, geht nur mich was an. Und das bedeutet, dass niemand etwas darüber von mir hören wird. Ganz gleich, was geschehen ist, das bin ich ihr schuldig. Doch das, was sie behauptet, ich hätte es getan, das stimmt nicht, und nur das sollen und müssen die Leute wissen.«
Charlie hatte sie mit einer Wucht geliebt, die wie Strom durch seinen Körper ging, und jetzt, wo die Liebe abgeschaltet war, als hätte sie jemand ausgeknipst, wusste er nicht, was er mit all der Liebe anfangen sollte, die er in seinem wilden Herzen verspürte, und auch mit dem Hass, den er für sie empfand, wusste er nicht, wohin. Und so hielt er einfach den Kopf gesenkt, und seine Lippen waren versiegelt. Er hatte den einen wahren Glauben verloren, den er jemals besessen hatte, den Glauben, der vor so langer Zeit unten am
Fluss über ihn gekommen
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