Ein Winter mit Baudelaire
Männerstimme.
»Baudelaire!«
Der Hund stellt die Vorderpfoten auf den Boden, setzt sich und wartet, die Augen auf das Törchen gerichtet. Es öffnet sich: Dahinter erscheint ein großer Kerl um die fünfzig mit einer Schürze vor dem dicken Bauch, die Augen ein verwaschenes Blau, die Haare eine weiße, zerzauste Mähne. Der Mann geht vor dem Hund in die Hocke und zwickt ihn in die Backen.
»Wo warst du denn, du alter Halunke?«
Baudelaire springt auf und läuft zu Philippe. Der Mann kommt langsam hoch und wischt sich die Hände an der Schürze ab. Er und Philippe wechseln einen Blick. Dann geht der Mann auf ihn zu und mustert ihn eingehend, ehe er ihm endlich die Hand hinstreckt.
»Bébère, Bébère der Berber …«
»Äh … Philippe … Einfach nur Philippe …«
Händeschütteln. Bébère streichelt dem Hund über den Kopf.
»Willst du ein paar von Bébères leckeren Fleischbällchen?«
Bei dem Wort »Fleischbällchen« richten sich die Ohren des Hundes schlagartig auf, er bellt, springt ausgelassen herum und läuft schnurstracks auf das Holztörchen zu. Er stößt es auf und verschwindet im Haus. Philippe und Bébère bleiben allein zurück.
»Kümmerst du dich um ihn?«
»In gewisser Weise …«
»Was soll das heißen, in gewisser Weise?«
»Sagen wir, er hat mich aus einem ziemlichen Schlamassel rausgeholt …«
Bébère wirft ihm einen kurzen, prüfenden Blick zu.
»Nicht leicht, die Straße. Hast du Hunger?«
»Na ja …«
»Du wirst doch wohl nicht die besten Fleischbällchen von Paris ausschlagen!«
»Nein, ich … einverstanden!«
Er geht hinter Bébère her. Minuten später sitzt er an einem kleinen Tisch in der Küche des Kebab-Restaurants Bei Bébère vor einem Teller Fleischbällchen, während der Hund sich über einen Napf hermacht, auf dem der Name »Baudelaire« steht.
»Bist du wirklich ein Berber?«, fragt Philippe zwischen zwei Bissen.
»Meine Frau. Ich bin aus Colmar, Elsass!«
Der Hund schleckt geräuschvoll seinen Napf aus und setzt sich neben den Tisch. Während er sich noch die Lefzen leckt, blickt er treu in die Runde und gibt leise, bettelnde Geräusche von sich. Philippe wirft ihm ein Fleischbällchen hin, das er auffängt und gierig verschlingt.
»Und … warum ›Baudelaire‹?«
»Wegen dem Dichter!«
Er steht auf und zeigt Philippe ein kleines, hohes Regal, in dem ein Dutzend Bücher steht, darunter ein altes Telefon mit Wählscheibe.
»Ich liebe die Poesie«, sagt er und streicht mit der Hand über die Buchrücken.
»Tja, nur Rechnungen kann deine Poesie leider nicht bezahlen!«
Bébères Frau Fatima steht, mit Einkäufen beladen, hinter dem kleinen roten Tor. Philippe wischt sich rasch den Mund ab und steht auf.
»Hilfst du mir vielleicht mal?«
Bébère eilt zu dem Törchen, öffnet es und nimmt ihr ein paar der Tüten ab.
»Du und deine guten Werke …« Sie seufzt laut, dass jeder es hören kann.
Sie kommt herein.
»Madame …«, stammelt Philippe und nimmt seine Mütze ab.
»Entschuldigen Sie …«
Er tritt zur Seite, um sie vorbeizulassen.
»Draußen warten Gäste«, versetzt Fatima, während sie ihre Pakete auf der Arbeitsfläche ablegt.
Philippe wirft Bébère einen Blick zu.
»Ich …«
»Komm, ich bring dich zur Tür.«
Sie verlassen die Küche und gehen durch den Hof.
»Tut mir leid, im Moment ist sie ein bisschen …«
Bébère verzieht das Gesicht, wedelt mit der Hand.
»Danke …«, sagt Philippe und wendet sich mit Baudelaire zum Gehen.
»Oh! Warte …«
Bébère verschwindet wieder im Haus und kommt mit einem in Leder gebundenen, aufwendig gearbeiteten Gedichtband aus der Gesamtausgabe der Werke von Charles Baudelaire angelaufen.
»Hier, damit du was zu tun hast, du kannst es mir bei Gelegenheit zurückgeben …«
»Bébère!«, ruft es aus der Küche.
»Seite 307 bis 309, die Ecken sind umgeknickt …«
»BÉBÈRE!!!«
»ICH KOMME! … Gut, ich muss los … Bis bald mal!«
Er streichelt Baudelaire ein letztes Mal über den Kopf, schlägtPhilippe freundschaftlich auf die Schultern und verschwindet hinter dem Törchen.
»Bin ja schon da …«
Hundeleben
Nach einigen Wochen ist Philippe regelrecht in den Stadtteil integriert. Die Bewohner und Ladenbesitzer haben sich an seine Silhouette, seine Präsenz gewöhnt. Man erkennt ihn, man grüßt ihn, ist auf Du und Du, hier einmal Streicheln für den unwiderstehlichen Baudelaire, dort ein Geldstück oder eine kleine Gabe in Form von Naturalien fürs Herrchen, und
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