Ein Winter mit Baudelaire
weiter geht’s.
Im Lauf der Zeit haben Baudelaire und er einige feste Gewohnheiten angenommen. Der Morgen beginnt mit einem Kaffee und zwei Crêpes mit Zucker bei Ahmed, dem jungen Marokkaner, der Philippe über die aktuelle Wettervorhersage informiert, das Lieblingsprogramm seiner Mutter, und ihm erlaubt, bis zum Eintreffen des Chefs frühestens um elf die Toilette zu benutzen. Es folgen eine oder zwei Stunden Lektüre, während Baudelaire bei den Passanten seinen Charme versprüht. Dann gehen er und Philippe zu Sarah, der jungen Frau, die sich um die Duschen an der Gare Montparnasse kümmert. Manchmal hat sie kleine Leckereien für Baudelaire mitgebracht, Duschgel oder Markenshampoo für Philippe. Einmal schenkt sie ihnen eine alte Bodendecke aus ihrem Zelt, nachdem sich ihr Freund und sie für die nächsten Sommerferien eine neue angeschaffthaben. Sie ist froh, die alte loszuwerden, die für Philippe deutlich bequemer ist als die Kartons und auch besser isoliert. Nach dem Duschen gehen sie gewöhnlich zu Bébère und setzen sich ein Weilchen zu ihm in die kleine Küche. Von Fatima jedes Mal in gewohnt bärbeißiger Manier begrüßt, werden die beiden immer mehr in ihre wohlwollenden Spötteleien einbezogen, wenn sich der Berber aus dem Elsass über Poesie auslässt und zu lyrischen Ergüssen aufschwingt. Und wenn sich Philippe am Ende fast mit ihr anlegen muss, um sein Kebab oder Baudelaires Fleischbällchen wenigstens in Teilen zu bezahlen, zieht sie regelmäßig einen Schlussstrich unter die Debatte, indem sie die beiden einfach vor die Tür setzt.
Nachmittags lassen sie sich durch das Gewirr der Straßen treiben, wählen einen Ort aus, an dem sie Geld fürs Abendessen sammeln, pausieren in der vorübergehenden Wärme eines Cafés, marschieren weiter, wärmen sich in einer Einkaufspassage auf oder tauchen in das lauwarme Innenleben der Metro ein. Im Netz der unterirdischen Gänge setzen sie ihre Bemühungen fort. Im Gegensatz zu den Kollegen bitten sie die anderen Fahrgäste um nichts. Philippe lehnt sich einfach an die Schiebetür, die sich während der gesamten Fahrt nicht öffnen wird, Baudelaire setzt oder legt sich ihm zu Füßen, daneben ein kleiner Plastikbecher. Dann schlägt Philippe den von Bébère geliehenen Gedichtband auf und beginnt mit lauter Stimme zu lesen. Er liest ohne Unterbrechung bis zur Endstation, von wo sie dieselbe Strecke zurückfahren oder in eine andere Linie umsteigen. Am Anfang verkriechen sich die Zuhörer hinter der gewohnten Mauer aus Gleichgültigkeit: Blicke, die sich auf den Boden, die Fensterscheiben, ein Buch oder eine Zeitung heften, laut aufgedrehte MP3-Player, die zu Ohrenklappen werden,stumme, überdrüssige Seufzer, die sich in einem verzerrten Lächeln mitteilen.
»Ich singe den kotbespritzten Hund, den armen Hund, den Hund ohne Behausung, den streunenden Hund, den Seiltänzerhund, den Hund, dessen Instinkt, wie der des Armen, des Zigeuners und des Komödianten wunderbar geschärft ist durch die Not, die so gute Mutter, die wahre Schutzgöttin der gescheiten Leute!
Ich singe die armseligen Hunde, die einsam in den gewundenen Schluchten der unermesslichen Städte umherirren, und sie, die dem verlassenen Menschen mit geistvoll blinzelnden Augen sagten: »Nimm mich zu dir, und aus dem Elend von uns beiden machen wir dann vielleicht so etwas wie Glück!«
Wenn er dann, anstatt an der nächsten Station auszusteigen, ungerührt weiterliest, heben sich fragend die ersten Augenbrauen, ein iPod wird leiser gestellt, ein Ohrstöpsel herausgenommen, Zeitungen und Bücher klappen zu, zwischen den Sitzbänken strecken sich Hälse. Nach einer Weile wechseln die Fahrgäste erstaunte Blicke, die Gesichter entspannen und öffnen sich. Im Lauf der Stationen ist auch das Klimpern in dem kleinen Becher immer deutlicher zu hören.
Bei beständigem Wetter lässt sich Philippe am Ende des Tages von Baudelaire zur Fußgängerbrücke Pont des Arts führen. Dort sitzen sie dann auf einer Bank und genießen den Blick zum Horizont und die klare Aussicht, ehe sie zu Abend essen, während sie nach Montparnasse zurücklaufen.
Abends schauen sie manchmal bei Bébère vorbei, wo Philippe den größten Teil seiner Tageseinnahmen in einerleeren Dose deponiert, die ursprünglich der Verpackung von elsässischen Sandplätzchen diente.
Wenn sie sich schließlich auf ihrem Nachtlager ausstrecken, schlägt Philippe seinen Schlafsack auf, und Baudelaire kuschelt sich neben ihn. Bei wolkenlosem
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