Ein Wispern unter Baker Street: Roman (German Edition)
»Anfragen« vom Fallkoordinator, ich solle doch bitte meinen Arsch in Bewegung setzen und meine Berichte abliefern. Ich begann meine Besuche bei Kevin Nolan und Ryan Carroll zusammenzufassen. Ich überlegte, ob ich auch meine spätere Begegnung mit Kevin Nolan und Agent Reynolds vermerken sollte, aber das hätte womöglich zu der Frage geführt, warum ich nicht sofort Kittredge angerufen hatte. Am Ende erwähnte ich nur, dass ich Zachary Palmer über Nacht hier aufgenommen hatte und er inoffiziell angedeutet hatte, dass zwischen ihm und den Nolans böses Blut herrschte. Man hatte mir noch keine weiteren Aufgaben zugewiesen, daher schaute ich mir die Berichte der Spurensicherung in HOLMES an.
Aus James Gallaghers Handy hatte man aufgrund des »ungewöhnlich korrodierten« Zustands der Mikrochips keine Informationen erhalten können, wobei man hoffte, vielleicht noch etwas aus dem relativ unbeschädigten Flash-Speicher herauszubekommen. Aus bitterer Erfahrung wusste ich, was das Handy »korrodiert« hatte. Ich fragte mich, ob die Spurentechniker es auch wussten. In der modernen Welt waren Nightingale und das Folly Treibgut, das sich nur dank eines verwickelten Geflechts von Abmachungen und unausgesprochenen Vereinbarungen über Wasser hielt, von denen viele – da war ich mir sicher – ausschließlich in Nightingales Kopf existierten.
Die Untersuchung der Mordwaffe hatte ergeben, dass diese tatsächlich das Bruchstück eines Tellers war, dessen computersimulierte Rekonstruktion beilag. Im Gegensatz zu dem meisten modernen Geschirr, das aus Porzellan bestand, war er aus einer Art Steingut gefertigt – erkennbar am »Grad der Opazität und den Wasseraufnahmeeigenschaften«,was auch immer das heißen mochte. Laut der chemischen Analyse bestand das Material aus siebzig Prozent Ton, gemischt mit Quarz, gemahlenem Kalk-Natron-Glas und Feuerstein sowie Grog. Ich googelte Grog und entschied, dass nicht billiger Rum mit Zitronensaft, sondern die zerstoßenen Fragmente schon einmal gebrannter Keramik gemeint sein mussten. Oberflächlich betrachtet ähnelte die Zusammensetzung derjenigen des sogenannten Coade-Steins, aber die Analyse einer von einer Spezialfirma gelieferten Vergleichsprobe hatte gezeigt, dass einige Unterschiede bestanden; insbesondere war der verwendete Ton nicht der feine Ton aus Dorset, sondern vom minderwertigen Londoner Typ. Angefügt war eine zwanzigseitige historische Abhandlung über Coade-Stein, die ich mir für den Fall aufhob, dass ich in naher Zukunft einmal an Schlaflosigkeit leiden sollte.
Interessanter war der Obduktionsbericht. Die Form der Scherbe passte zu der tödlichen Wunde in James Gallaghers Rücken, ebenso zu einer weniger tiefen in der Schulter sowie vermutlich auch zu den drei Schnitten, die man in seinen Händen gefunden hatte – wohl Abwehrverletzungen. Das Blut am Tatwerkzeug stammte von James Gallagher, und eine Analyse der Richtung der Blutspritzer legte nahe, dass er sich die Scherbe selbst aus der Wunde gezogen hatte, während er auf den Bahnschienen lag. An den Kanten auf der Seite der Scherbe, die als »Griff« verwendet worden war, hatte man allerdings Spuren von anderem Blut gefunden, die einem Low-Copy-Number-DNA-Abgleich unterzogen werden würden. Leider waren die Ergebnisse frühestens im Januar zu erwarten. Dem Bericht war eine Notiz von Seawoll beigefügt, wir sollten bei Vernehmungen aufHandverletzungen achten. Einen Menschen zu erstechen erfordert mehr Kraftaufwand, als man meinen sollte – der menschliche Körper ist voller lästiger Hindernisse, wie zum Beispiel Rippen. Unerfahrene Messerstecher verletzen sich regelmäßig selbst, wenn ihre Hand durch den Schwung der Bewegung an der Klinge hinunterrutscht – um das zu verhindern, haben Kampfmesser eine Parierstange. Es ist also relativ einfach, Amateur-Messerstecher zu fassen: Man suche nach Schnittwunden, vergleiche die DNA, und dann nicht lange gefackelt, ab nach Pentonville. Eine schöne eindeutige Beweislage, es ist fast unmöglich, sich da vor Gericht herauszuwinden. Kein Wunder, dass Seawoll und Stephanopoulos mir nicht weiter auf die Nerven fielen. Sie dachten sich wohl, es wäre nur eine Sache der Zeit, bis sie beim Richtigen den DNA-Abstrich machten.
Vorausgesetzt, die DNA war menschlich.
Der Schlamm an James Gallaghers Stiefeln entpuppte sich als appetitliche Mischung aus menschlichen Exkrementen, zerfetztem Toilettenpapier und verschiedenen Chemikalien, aus der ersichtlich war, dass er in den
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