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Einarmig unter Blinden - Roman: Roman

Einarmig unter Blinden - Roman: Roman

Titel: Einarmig unter Blinden - Roman: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philipp Jessen
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nächsten Tag hole ich Johnny ab. Ziehe ihn zu Hause sofort über mich. Das tapfere Schneiderlein hat gute Arbeit geleistet: nicht zu lang, nicht zu kurz, nicht zu weit, nicht zu eng. Perfekt!
    Mein neuer Polo-Reiter heißt Knoxville.

Siebzehn:
Welthasstag
    Meine Mutter hat mir beigebracht, dass man Tränen nicht wegwischt. Man würde ihnen sonst ihren Sinn nehmen, sagt sie.
    Heute hatte ich einen »Welthasstag«. Wenn ich einen »Welthasstag« habe, ist meine Laune so mies, dass ich 24 Stunden unfähig bin, ein nettes Wort zu sprechen oder auch nur irgendetwas gut zu finden. Meine Stimmung ist so, wie DJ Bobo aussieht – nicht mehr steigerungsfähig scheiße.
    Egal was für grandiose Nachrichten mich erreichen, nichts kann mich aufheitern. Aber was noch viel schlimmer ist: Egal was für nervige Dinge mir an einem »Welthasstag« passieren, nichts könnte meine Laune noch weiter verschlechtern.
    Da ich mich heute kaum aus meiner Wohnung hinausbewegt habe, bekam die Welt bisher von meinem ihr gewidmeten Hasstag nicht viel mit. Nur als ich im Blockhouse zu Mittag aß, stellte ich der Kellnerin vom Nebentisch ein Bein. Den Rest des Tages guckte ich fern.
    Abends bin ich mit Kai bei mir vollkommen fremden Menschen zu einem Spieleabend eingeladen. Das heißt, Kai ist eingeladen und darf jemanden mitbringen. Da ich nichts vorhabe und ich Kai den Erfolg gönne, mal mit einem coolen Typen irgendwo aufzutauchen, sage ich zu:
    Er: »Bitte komm mit! Das wird toll! Da sind gute Frauen.« (Erste Überredungsphase – das Standardargument: Das andere Geschlecht ist zahlreich zugegen.)
    Ich: »Nein.«
    Er: »Bitte! Ich hole dich auch ab, fahre dich wieder nach Hause und leihe dir meine Run-DMC-Platte.« (Zweite Überredungsphase – das Leih- und Schenkargument: meist Kleidung, CDs oder Partyeinladungen.)
    Ich: »Klingt gut. Aber wir gehen heim, wann ich es will.«
    Er: »Ja, gut. Aber …«
    Ich: »Aber was?«
    Er: »Aber bitte stell dich nicht wieder als Guido von Stauffenberg vor.«
    Ich: »Wieso? Meine Schweinenazi-Hallo-ich-bin-der-Guido-von-Stauffenberg-jaja-mein-Opa-war-der-mit-der-Bombe-jede-Familie-hat-eben-ihre-schwarzen-Schafe- Performance ist eine Legende. Du Ignorant!«
    Er: »Nein! Ich meine, ja, ist okay.« (Dritte Überredungsphase – totale Aufgabe: »Mach was du willst. Du kriegst, was du willst. Komm einfach nur mit!«)
    Ich: »Gut, bis gleich.« (Zusage)
    Als wir den mit einem Papierschild an der Tür gekennzeichneten Gameroom betreten, überkommt mich das Gefühl, in einer Nervenheilanstalt für behinderte Tiere gelandet zu sein. »Eine hässlicher als die andere, einer dümmer als der andere«, flüstere ich Kai zu, während wir uns einer Spielwiese der unerotischsten Art nähern: einem von vier Leuten besetzen und mit einem braunen Frotté-Spannbettbezug bezogenen Sperrholzbett.
    »Da seid ihr ja endlich! Lasst die Spiele beginnen!«, ruft jemand und schickt sogar noch ein fröhliches »Hahaha« hinterher.
    Wir setzen uns. Diese Leute gehen gar nicht:
Olaf, der drei Stunden braucht, um eine Spielanleitung zu begreifen, und aussieht wie eine lebendig gewordene Diddlmaus mit Riesenbrille.
Corinna, eine schlecht gefickte Ackerstute, die im Ernst meint, mich und die restliche Umwelt mit ihrer Zahnklammer belästigen zu müssen.
Susanne, unsere Gastgeberin, die mir klar macht, dass ich Sperrholz bis zum heutigen Tag unterschätzt habe – scheint doch ein sehr stabiles Material zu sein.
Irgendein Typ, der unentwegt wie ein gestörter Papagei vor sich hin sabbelt, »wie nett« er hier alles findet: »wie nett« die Spiele sind, »wie nett« die Wohnung ist, »wie nett« die Leute sind.
    Ja, natürlich findest du hier alles total »wie nett«, denke ich. Was anderes kennst du nicht und was anderes will dich nicht.
    »Ich wünsche mir, dass wir alle einen ganz, ganz netten Abend haben!«, strahlt Happy-Hippo-Susanne und breitet das erste Spielfeld aus.
    Das Leben ist kein Wunschkonzert. Das wird Susanne heute wohl noch lernen.
    Die Spiele gewinne ich so schnell, wie ich die Sympathien der anderen verspiele:
Bei Tabu erkläre ich den Begriff »Millionär« mit »Ist mein Vater«.
Beim Psychospiel Therapie unterstelle ich Susanne (die ich konsequent mit Sandra anspreche) eine schlechte Menschenkenntnis mit der Begründung, dass sie sich selbst zu mögen scheint.
Bei Monopoly klaue ich Corinna Geld und weigere mich zweimal, ins Gefängnis zu gehen.
Dem »Wie nett«-Papagei mache ich weis, dass ich Nuklear-Philosophie

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