Einarmig unter Blinden - Roman: Roman
diesem Thema machen könnte.
Oha.
Wir stehen gemeinsam im VIP-Bereich vom Glashaus. Hier finden die Feste statt, die in Frauke Ludowigs Wortschatz »Promi-Partys« heißen. Es wimmelt von champagnerbreiten Söhnen und Töchtern, die durch weggesoffene Hirnzellen, die Connections und das Geld ihrer Eltern aerodynamisch glatt geschmirgelt sind, sodass die Ecken und Kanten des Lebens ihnen nichts werden anhaben können.
Die VIP-Area ist ein mit roten Seidenkordeln geschützter Bereich mit eigener Bar, gemütlichen Ledersitzen gegenüber der Model-Lounge und direkt an der riesigen Tanzfläche gelegen.
Der Spruch: »Wer im Glashaus ficken will, sollte in den Keller gehen«, trifft auf dieses Glashaus nicht zu. Wer hier Sex will, sollte sein Handgelenk schmücken und kann zur Not die Toilette benutzen. An meinem dünnen Ärmchen trage ich eine Gold-Stahl-Daytona-Rolex, ein gelbes VIP- und das rote Model-Band. Das bedeutet frei saufen, access to all areas – und die Frauen umkreisen einen.
Früher habe ich die Bänder für sie organisiert. Wir sind immer von den Türstehern an der wartenden Meute am Eingang vorbeigewunken worden. (Gemurmel: »Wohl wichtig, wer is’n das, so’n Arsch, Blabla.«) Wenn ich meinen Lokalprominenzstatus geltend mache, achte ich immer darauf, dass sich nicht dieses »Entschuldigung, ich stehe auf der Gästeliste«-Lächeln in mein Gesicht schleicht. Es gibt nichts Schlimmeres. Schließlich bin ich keiner, der auf solche Vorteile verzichten würde. Dafür bin ich zu bequem, versoffen und eitel. Moritz Bleibtreu hingegen ist so ein Typ – er stellt sich in die Schlange. Lässt sich von den Blicken der Feierwütigen streicheln. Das ist das Vorspiel. Dann kommt der Hauptakt: Wenn die Türsteher ihn erkennen und dann kommen, um ihn reinzuholen, schreit er ganz laut, damit es auch wirklich alle hören: »Neeeeeeiiin! Ich möchte wie jeder andere behandelt werden!« Orgasmus! Er geht auch nie in den VIP-Bereich.
Es ist trotzdem nicht echt.
Ich habe dann immer zu ihr gesagt, geh ruhig zu den anderen, ich mach das. sie ist tanzen gegangen, ich habe das fehlende VIP-Band geholt (das Model-Band bekommt man unten an der Tür, das VIP-Band im »Clubbüro«) und es um ihr grandios schönes Handgelenk gebunden. Dafür wurde ich geküsst. Vor allen Leuten. Das hat sie selten getan, wenn, dann nur abends. Umarmungen und Zärtlichkeiten wich sie in der Öffentlichkeit oft aus. Erst heute fällt mir das auf.
Die Barfrau ist total überfordert. Also lasse ich einen Soap-Schauspieler, der immer mein Freund sein will und gerade auftaucht, etwas für die berühmtheitswillige Ex bestellen. Sonja heißt sie und sie ist … was ist sie eigentlich? Ganz sicher kein A- oder B-Promi.
Ein F-Promi?
Gibt es so was?
Ja, ein F-Promi, und das heißt schon was – hier im Mikrokosmos Glashaus.
Wir reden und reden. Sonja redet mehr. Zu viel. Ich höre schon seit geraumer Zeit nicht mehr zu. Ich kann super nicht zuhören. Ich kann in Gesprächen total abschalten und höre dann nur einen summenden Ton. Aber anhand der Tonhöhe weiß ich genau, wann ich »Echt?«, »Na, ich weiß ja nicht!« oder »Ja! Genauso sehe ich das auch!« sagen muss. Das mache ich natürlich nur bei Mädchen. Jungs lasse ich einfach stehen. Was kann ich dafür, dass Jungs keinen Busen haben?
Sie will mit mir knutschen. Ich nicht. Sie redet zu blöd und nach Küssen fühle ich mich heute nicht. Ich glaube wegen der Bänder, die mich an sie erinnern. Wie noch immer vieles, ganz vieles bis alles.
sie ist gerade auf Sylt.
Wie lange dauert es über die Bahngleise nach Sylt zu laufen?
Ich beschließe mehr zu trinken. Sonja fragt: »Was machst du nächstes Wochenende?«
Ich sage: »Ich feiere meinen Geburtstag.«
Sie sagt: »O schade, da habe ich keine Zeit.«
Hatte ich sie eingeladen? Denke nicht, so was würde ich meinen Freunden nicht antun. Wie jemand, selbst ein Schauspieler, mit der fest zusammen sein konnte, ist mir ein Rätsel.
Seit sie weg ist, bin ich wie aufgewacht. Vorher lief bei mir alles komplett automatisch ab. Zack, zack und korrekt. Auf alles – und in jeder Situation – wusste ich eine eloquente Antwort. Jetzt aber bin ich, wie gesagt, aufgewacht. Brutal geweckt worden aus meiner liebevoll legitimierten, schnellen, gut formulierten wohlerzogenen Routine. Seit diesem Erwachen muss ich jede meiner Aussagen einzeln überlegen: Sinn, Grammatik, Wirkung. Überdenken und abwägen. Es ist, als ob der wache Zustand meinen Geist und
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