Einarmig unter Blinden - Roman: Roman
hat sie zum Glück nicht. Dafür leider meine Lederjacke. Die habe ich vergessen.
Nachtrag: Vier Wochen später
Es ist neun Uhr morgens. Mein Handy klingelt. Ich drücke auf den kleinen grünen Hörer. »Hallo?«
»Hallo, was geht! Ähh, hier ist Ralf. Kennst du mich noch?« Und ob ich dich kenne. Ralf ist ein investigativer Superjournalist ohne jede Scham vom Express.
»Ich wollte mich mal melden, hören was so läuft.«
Bei diesem Satz eines Journalisten sollten umgehend alle Alarmglocken losheulen. Ich könnte jetzt 20 Minuten mitspielen, rausfinden, was er will, und doch nichts sagen. Lassen das die Nebenwirkungen schon zu?
»Du Ralf, ich habe gleich Vorlesung. Ruf mich doch morgen wieder an.«
Später sehe ich am versifften Uni-Kiosk, was Ralf von mir wollte: Sonja hat es geschafft. Sie ist endlich auf dem Bild- Titel. Allerdings, weil sie versucht hat sich umzubringen. Sie ist aus dem Fenster ihrer Wohnung im was-weiß-ich-wievielten Stock gesprungen. Ein Türsteher hat sie nicht in einen Club gelassen, wird als Grund für die Tat vermutet.
Ich empfinde keinerlei Mitleid für Leute, die sich das Leben nehmen oder die es versuchen. Und schon gar nicht für die, die es nicht schaffen. Aber dieser Fall ist, gerade durch seine perverse Oberflächlichkeit, doch unglaublich tragisch. Ich finde, wenn sich jemand in eine solche Verzweiflung (und aus dem Fenster) stürzen lässt, weil er es nicht erträgt, vor einen Club abgewiesen zu werden, ist es vielleicht besser, wenn er nicht mehr lebt. Es ist wie mit alten Menschen, die lange Zeit im Krankenhaus gelegen haben. Schlafen sie irgendwann, an Maschinen angeschlossen, ein, sagt man: »Das war kein Leben mehr.«
»Es bestand keine Chance auf Heilung.«
»Ist vielleicht besser so.«
Wäre es für Sonja auch besser so? Tot zu sein? Wahrscheinlich ja. Das ist kein Leben mehr. Sie ist an ihre eigenen Maschinen angeschlossen. Sie hat keine Chance mehr auf Heilung.
Zwanzig:
Traum
Seit sie weg ist, schlafe ich anders. Kürzer. Und träume unangenehm. Oft nehme ich mir vor, meine Träume zu behalten und aufzuschreiben. Es klappt nie. In der Nacht, wenn ich zwischendurch aufwache, bin ich zu faul. Am nächsten Morgen habe ich dann alles vergessen.
Gestern aber, zwischen Nacht und Morgen, habe ich es zum ersten Mal geschafft, mich vor meinen Laptop zu schleppen. Das kam dabei heraus:
Ich gehe einen Strand entlang. Es ist warm. Viele Menschen. Alle essen Cornetto Erdbeer. Auf einmal breche ich ein.
Ich befinde mich auf einem unterirdischen Parallelstrand. Links und rechts ist alles schwarz. Der Sand ist klumpig-feucht. Ich schaue nach oben und sehe, dass der Strand über mir nur eine hauchdünne Sandschicht ist. Doch außer mir können alle anderen Leute darauf gehen und existieren. Durch das wie mit einem Zirkel gezogene Loch sehe ich die Sonne, höre glückliche Stimmen und die Brandung rauschen. Ich schreie, aber niemand hört mich. Oder will mich hören.
Ich weiß noch, dass ich mich ganz schnell an die Situation da unten gewöhnte. Trotz der Angst.
Dann plötzlich stehe ich mit Zuckerwatten-Konsum-Alptraum Jeanette Biedermann auf meinem alten Schulhof. Genauer gesagt im Mittelkreis des Basketballfeldes. Die Körbe sind abgerissen. Der Platz ist aus hellgrauem Beton. Das Feld liegt zwischen den gelben Lernbungalows und der Sporthalle mit üppiger Gläserfront.
»Kommst du endlich?«, fragt Jeanette und greift meine Hand.
In meinem Traum finde ich Jeanette Biedermann schön.
Ihre Brüste sind durch das viele Training kleiner geworden, sagt sie. Ihr Dekolletee sieht wirklich sehr knöchern aus.
Sie versucht mich mit ihren affektierten, stumpfen Augen anzustrahlen. Sie sollte öfter Tücher tragen, finde ich. Ich gebe ihr das schwarze Bandana, das ich zufällig in der anderen Hand halte. Ohne zu fragen legt sie es an.
Jeanette greift wieder nach meiner Hand und zieht mich Richtung Turnhalle. Ich bin jetzt glücklich.
Die Tür ist offen. Wir gehen an den vom Hausmeister gezimmerten und mit Medizinbällen (grün, braun, rot) bestückten Regalen vorbei Richtung Umkleidekabinen. Erstaunt registriere ich, dass Jeanette mich zum Jungs-Umkleideraum zieht. Da wir kein Sportzeug dabei haben, wir aber schließlich nicht zu spät zum Unterricht kommen dürfen (Strafrunde pro Minute!), gehen wir zügig diagonal durch den weißen, quadratischen Raum Richtung Turnhalleneingang. Auf dem Weg geraten wir ins Stolpern. Wir fallen in eine höchstens 10 Zentimeter große
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