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Einarmig unter Blinden - Roman: Roman

Einarmig unter Blinden - Roman: Roman

Titel: Einarmig unter Blinden - Roman: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philipp Jessen
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Spalte zwischen der weißen Wand aus Kreide und einem vom Hausmeistergezimmerten, quadratischen Mülleimer ohne Öffnung, auf dem »HSV ist scheiße« steht.
    Ich liege auf Jeanette.
    Ich erinnere mich daran, dass es mir gefallen hat.
    Sie sagt: »Wenn du mich jetzt nicht küsst, bist du gemein und wirst Gaststar bei ›Gute Zeiten, schlechte Zeiten‹.« Wir küssen uns. Der Rest der Klasse kommt herein. Alle sagen im Chor: »Jetzt ist es wohl endlich offiziell.«
    Jeanette und ich haben keine Lust mehr auf Sport. Wir gehen den Weg durch den weißen Würfel zurück. Durch den Gang, über den Schulhof, durch die Pausenhalle, zum Vordereingang hinaus. Wir spazieren auf dem zwei Meter breiten Rasenstreifen, der sich einmal um die ganze gelbe Schule schlängelt. Bis wir an meinem Auto ankommen. Wir küssen uns wieder.
    Ich versuche mich zu erinnern, ob ich in bunt oder schwarzweiß geträumt habe, kann mich aber nicht erinnern. Um keine weiteren wichtigen Details zu vergessen, tippe ich hektisch weiter.
    Im Hintergrund jongliert Xavier Naidoo mit Bällen aus Feuer. Er singt irgendwas, aber ich kann ihn nicht verstehen. Plötzlich bremst ein weißer 190E-Mercedes mit nachgemachten BBS-Felgen. Boris Becker steigt aus. Er schreit fürchterlich laut »Mistekacke!« und »Du hast mich gesehen, gib es zu, du Arsch!« und »Stimmt’s?« und »Du dummer Wichser!«. Er kommt auf mich zu. Wir geben uns erst normal die Hand. Dann die Armdrücken-ähnliche Männergeste, dann verkanten sich unsere Fingerkuppen ineinander, dann hauen wir unsere Faust viermal gegeneinander, zweimal von vorn und einmal jeweils von oben und unten. Als sich unsere Hände endlich wieder voneinander lösen, greift Jeanette wieder nach meiner Rechten.
    »Ich habe gerade meine neue Freundin geküsst, als ich an dir vorbeigefahren bin.« BummBummBoris zeigt auf den leeren Mercedes. »Das verrätst du, oder? Du Verbrecher!«
    Ich sage: »Tut mir leid.«
    »Was kriegst du dafür?«, fragt er.
    Ich sage: »2000 Euro.«
    Was genau soll ich gewusst haben? Und: Könnte ich im Zweifelsfall nicht mehr dafür herausschlagen?
    Er drückt wieder meine Hand. Diesmal fester.
    Xavier hat sich mittlerweile mein Surfbrett genommen. Mit lautem Geschrei nimmt er Anlauf, springt mit dem Wellenreiter auf die Motorhaube meines Autos und surft hin und her.
    »Gib mir die Hälfte, ich brauche die Kohlen. Steuerprobleme«, sagt Boris. Setzt sich in seinen Wagen und lässt Gummi stehen.
    Freud sagte mal sinngemäß: »Alles, was in einem Traum vorkommt, jede Figur, jeder Gegenstand, ist ein Teil von einem selbst.«
    Jeanette Biedermann?
    Ich bin wohl kaputter als angenommen.

Einundzwanzig:
sie hat einen Neuen
    »sie hat einen Neuen!«, ist das Erste, was ich heute Morgen höre. Als Nächstes: »Du, ich habe jetzt keine Zeit, lass uns ein anderes Mal darüber reden. Tschö.« Dann kommt nichts mehr aus meinem Telefon. Reichte aber auch.
    Wie kann man das nur machen – jemandem eine Neuigkeit überbringen, nach der er sich unweigerlich wie eine bepisste Jogginghose fühlen muss, und dann sofort auflegen? Nach so einer Nachricht braucht der Betroffene Trost (»Alles hat seinen Sinn, das Leben geht weiter!«), Infos (wer, wann, warum) und will belogen werden (»Das macht sie nur, um über dich hinwegzukommen, sie liebt dich noch immer!«). Aber stattdessen ruft dich Hiob an, schlägt dein Herz zusammen und hat keinen Bock, Erste Hilfe zu leisten.
    In der Psychologie gibt es für ein solches Benehmen die Theorie der Kreise. Versuchspersonen werden zwei gleich große Kreise gezeigt. Einer ist von kleineren, der andere von größeren Kreisen umzingelt. Der von den kleineren Kreisen umringte wirkt auf die meisten Betrachter größer. Für das menschliche Miteinander bedeutet das Folgendes: Machst du die Leute um dich herum kleiner, siehst du größer aus. Vielleicht sind Menschen aber auch nur von Natur aus unsensibel und scheren sich um dich und deine Gefühlswelt einen Dreck. Egal warum und weshalb, eine ganz schlimme Nebenwirkung von Liebeskummer ist, dass dich viele Freunde enttäuschen. Sind nicht da. Oder sie sind falsch da. Oder sie sind bei deiner Ex.
    Das Telefonat hat mir Alkoholdurst gemacht. Ich schaue auf meinen Wecker. Es ist zwölf Uhr. Okay.
    »Die Frage ist also: Wie betrunken ist betrunken genug? Die Antwort hat vor allem etwas mit den Hirnzellen zu tun. Ungefähr eintausend Hirnzellen sterben mit jedem Glas Alkohol. Aber so schlimm ist das nicht, weil wir Milliarden

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