Eindeutig Liebe - Roman
Zack. Zurück in die Realität.
Es war Freitag. Vermutlich wird es ein Freitag wie alle anderen auch, dachte ich mürrisch, als mir klar wurde, dass ich in meinem ersten guten Traum seit Monaten den Kuss verpasst hatte. Nach einer Tasse Kaffee kam ich schon besser mit der Situation zurecht. Selbstverständlich war es nur ein Traum gewesen – Nick liebte mich nicht, das wusste ich, und das Leben ging weiter. Zeit, realistisch zu sein.
Dad war an diesem Morgen besonders aufgekratzt und riss mich aus den Fängen meines Selbstmitleids. »Es ist Freitag, Sienna!«, rief er, während er rücklings auf dem Sofa lag und sich eine riesige Weltkarte vor die Nase hielt. Sie hing in der Mitte durch und knisterte laut, als er mit der Faust dagegenschlug, um sie zu glätten. Das Ding sah aus, als wollte es ihn unter sich begraben.
»Ja, das stimmt, Dad«, bestätigte ich. »Was machst du da?«
»Nun, ich sehe mir auf der Karte an, wohin ich reisen würde, wenn ich einfach aufstehen, aufbrechen und losfliegen könnte. Ich stelle mir vor, du und ich würden zusammen reisen, Kleines. Und dann würde ich über unsere Abenteuer schreiben, Land für Land.« Er sah mich mit glänzenden Augen an. Die vier Ecken der Weltkarte rutschten ihm aus den Fingern und legten sich um seine Arme.
Mir tat es ein bisschen weh, das zu hören. Diesen Schmerz kenne ich. Ich empfinde oft so, wenn mir vor Augen geführt wird, dass Dad sein schlechtes Los nicht nur akzeptiert, sondern sich außerdem sogar weigert, sich davon einschränken zu lassen. Es ist eine Mischung aus durchdringender Traurigkeit und überwältigendem Stolz. Eine verwirrende Mischung.
Ich kann mir gut vorstellen, dass es recht einfach wäre, sich seiner Wut und Frustration zu überlassen und das Interesse an allem zu verlieren, was außerhalb der Wände unserer kleinen Wohnung in Westlondon vor sich geht. Doch statt zu verbittern, erkundet mein Vater sämtliche Möglichkeiten, als könnte er hinaus und all das erleben. Er tut das mit Wörtern, Zeichnungen, Tabellen, mit HB-Bleistiften, und er hinterlässt überall, wohin er geht, Spitzreste, die ich dann mit Handfeger und Kehrblech aufsammeln muss. Das macht mir überhaupt nichts aus.
»Wow, das klingt ja nach einem Riesenprojekt, Dad. Können wir bitte nach Indien?« Ich setzte mich neben ihn aufs Sofa und zeigte mit einem dunkel lackierten Fingernagel auf mein Traumziel. Er legte den Arm um meine Taille und drückte mich. Ich erwiderte den Druck.
»Aber sicher, Sienna. Wohin auch immer du möchtest. Ich werde alle Informationen über jeden einzelnen Ort auf unserer Route zusammentragen – was man dort isst, wie es dort riecht, was es dort für Bräuche gibt und so weiter. Und in paar Monaten kannst du alles über unsere Reise nachlesen. Wir könnten uns jeder fünf Orte aussuchen, du und ich. Und ich wüsste gern so schnell wie möglich, wofür du dich entscheidest.« Er drehte den Kopf in meine Richtung und sah mich an, als wäre das alles real. Als würde es wirklich geschehen. Ich wollte ihn ganz eng an mich drücken und lange nicht mehr loslassen. Doch es war schon spät, und deshalb küsste ich ihn bloß auf die Wange und schob mir den letzten Bissen Toast in den Mund, ehe ich eilig aufbrach.
»Ich hab dich lieb, Dad«, sagte ich und blieb vor der Wohnungstür stehen, um ihn noch einmal anzusehen, während ich mich gleichzeitig bereits wappnete, jeden Moment wieder von der Wirklichkeit verschluckt zu werden.
»Ich hab dich auch lieb, Sienna«, erwiderte er, ohne von seiner Karte aufzublicken.
Nie hatte ich genug Zeit für irgendwas. Das Leben schien mir davonzulaufen, aus den Fingern zu gleiten. Es bestand nur aus Fahrten ins Krankenhaus, Schlangestehen vor der Kaffeemaschine, Besprechungen und Interviews. Das absolute Chaos.
Kaum war ich zur Haustür heraus, stellte ich fest, dass heute ein außerordentlich schöner Sommertag war, und mein durch Nick verursachtes Elend wirkte immer banaler, bis es schließlich zu versickern begann. Die ganze Stadt schien zu lächeln, und ich war nur ein winziger Teil davon, völlig überwältigt von der Herrlichkeit des Tages. In den hohen Bäumen an der Straße – die so typisch sind für diesen Teil Londons – sangen die Vögel. Vor den Läden rund um den Bahnhof lockten frisches Obst und Gemüse. Die Farben waren so lebhaft, dass ich sie beinahe schmecken konnte.
Ich war glücklich. Es war unmöglich, so einen Morgen zu erleben und nicht glücklich zu sein. Ich dachte
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