Eindeutig Liebe - Roman
Im ersten Moment konnte ich gar nicht sagen, aus welchem Material das Kleid genau bestand. Ich konnte nur sagen, dass es die Art von Kleid war, von der ich als kleines Mädchen geträumt hatte, während ich mich danach sehnte, in eine Prinzessin verwandelt zu werden, wie ich sie aus den Filmen kannte.
Im Nacken wurde es von einem schmalen Band zusammengehalten, das sich als steiles V in die Körpermitte hinunterzog und an der Taille auf ein zierliches Korsett traf. Dieses wiederum setzte sich in einem wogenden Rock fort, den die Trägerin hinter sich herschleppte wie bei einem Hochzeitskleid. Doch es war eindeutig kein Hochzeitskleid. Es war ein höchst verführerisches Kleid, und es war wirklich sexy. Die Proportionen waren perfekt, die Farbe war perfekt, der Schnitt war perfekt …
… und die Verkaufsmasche sehr raffiniert.
Das lasse ich mir nicht gefallen, entschied ich und drehte mich wieder zur Tür. Ich konnte es kaum abwarten, den Mädels von der verrückten Begegnung mit dieser Frau zu erzählen.
»Was hältst du davon?« Lächelnd winkte sie mich zurück.
»Na, es ist absolut atemberaubend, aber ich bin nur wegen Sportsachen hier. Wenn ich mich dort einmal umsehen könnte, wäre das toll.« Ich bemühte mich sehr, höflich zu bleiben.
Frustriert schüttelte sie den Kopf. Plötzlich schob sie das Kleid auf mich zu, schwang es durch die Luft und ließ es auf meinen Armen landen, die ich unwillkürlich ausgestreckt hatte, um sicherzustellen, dass es keinen Schaden nahm.
Ihre Augen leuchteten so hell, so lebendig, dass es aussah, als würden sie jeden Moment in Flammen aufgehen.
Grüne Seidenbahnen fielen über meine Arme. Mir verschlug es die Sprache. Das Kleid war alt und lag trotzdem im Trend; es war klassisch und modern zugleich. Eine Promi-Stylistin wie Rachel Zoe hätte mich dafür wahrscheinlich die Straße entlanggehetzt und mir die Augen mit einem Zahnstocher ausgestoßen. Es war einfach bildschön – und wahrscheinlich furchtbar teuer.
»Ja, wie ich schon sagte, es ist bezaubernd. Ich muss jetzt aber wirklich nach Sportklamotten suchen«, sagte ich, jedoch ohne die Augen von dem Kleid zu nehmen. Die Liebe hatte mich bereits fest im Griff. Ich war dem Kleid mit Leib und Seele verfallen.
»Es gehört dir. Ich möchte, dass du es nimmst«, wiederholte sie. Ihre Kühle schmolz unvermittelt dahin und wurde zu einem warmen, breiten Lächeln. »Es hat mir gehört, Sienna. An dem Abend, an dem ich es trug, habe ich mich verliebt, und bald darauf habe ich geheiratet. Ich habe auf das richtige Mädchen gewartet, an das ich es weitergeben kann, und du … Ich habe da so ein Gefühl, was dich betrifft. Ich glaube, du kannst es brauchen.«
Ich konnte kaum glauben, dass ich diese Worte wirklich hörte. Hatte diese freundliche ältere Dame denn keine Tochter oder Nichte, an die sie das Kleid weitergeben konnte?
»Haben Sie denn keine weibliche Verwandte, die es haben möchte?« Ich sah sie forschend an und schob das Kleid zu ihr zurück. Was, wenn sie geistesgestört war? Vielleicht sollte ich lieber die Polizei rufen.
»Nein. Und stell keine Fragen. Es hat die richtige Größe, das sehe ich. Nimm es mit nach Hause, häng es gut weg, warte auf den richtigen Moment, um es zu tragen, und ich verspreche dir, es wird dein Leben verändern, Sienna. Bis zu dem Tag, an dem du es trägst, sollst du dir jedes Mal, wenn du dich niedergeschlagen, unterlegen oder von der Welt enttäuscht fühlst, einfach vorstellen, du würdest es tragen. Ich weiß, dass du es nicht leicht hast, ein Blick in deine Augen verrät es. Doch wann immer es in Zukunft schwierig für dich wird, stellst du dir einfach vor, du würdest dieses Kleid tragen …« Sie kniff die Augen zusammen, so voller Leidenschaft war sie für das, was sie da sagte. Plötzlich bemerkte ich einen russischen Einschlag in ihrer Stimme, den ich vorher zwar auch bemerkt hatte, allerdings ohne ihn wirklich zuordnen zu können.
Ob sie nun wahnsinnig war oder nicht, ich konnte dieser Frau gegenüber nicht unhöflich werden. So war ich einfach nicht erzogen. Gleichzeitig ging es aber auch nicht an, dass ich mit ihrem Kleid über dem Arm aus dem Geschäft spazierte.
»Hören Sie«, sagte ich, nahm ihre Hände und zog sie hinunter auf einen der beiden Klappstühle. Die Situation bereitete mir immer größere Sorgen. Eine Frau in mittleren Jahren kam unter lautem Geklingel zur Tür herein, floh aber augenblicklich wieder, als sie sah, dass wir hier ein vertrauliches
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