Eine Ahnung vom Anfang
Gewissheit auslöste, dass ich beobachtet wurde. Ich ging über den verwaisten Kinderspielplatz, auf dem Spielsachen wie nach einer Katastrophe verstreut lagen, und das brachte mich darauf, was der Landesbischof sich vor ein paar Jahren für einen Lapsus erlaubt hatte, kaum der Rede wert in seiner Lächerlichkeit, aber in der kleinen Welt, in der wir lebten, trotzdem gut genug, ein Lüftchen der Empörung auszulösen. Er hatte gesagt, Hochhäuser seien ein Übel, weil sie die Kleinen zum Lügen anregten, wenn sie von ihren Müttern aus dem sechsten oder siebten Stock gerufen würden und schnell herausfänden, dass sie ungestraft so tun könnten, als hörten sie nichts. Es war natürlich eine Lappalie, das Zwei-plus-zwei eines alten Mannes, der die Welt nicht mehr verstand, und beim Gedanken daran musste ich immer noch schmunzeln, während ich die Treppe hochstieg und klingelte. Ich wartete eine Weile, als mir nicht geöffnet wurde, und klopfte dann, und als auch das nichts half, kam ich auf die Idee, eine Nachricht auf einen Zettel zu schreiben und ihn unter der Tür hindurchzuschieben, und das funktionierte sofort.
Judith machte nur einen Spalt auf und zog die Tür gleich wieder hinter sich zu, kaum dass ich eingetreten war. Sie lotste mich durch den schmalen Gang in das Wohnzimmer, und während ich mich umblickte, ging sie zum Fenster, zog die Gardine beiseite und schaute hinunter auf den Vorplatz. Sie hatte noch kaum ein Wort gesagt, und als sie mich bat, mich zu setzen, entschuldigte sie sich im selben Moment und räumte die Bauklötze und Bilderbücher weg, die überall auf dem Sofa und den beiden Fauteuils lagen. Sie wohnte hier, seit sie zum Unterrichten an die Schule zurückgekommen war, und wahrscheinlich weil die Siedlung nicht den besten Ruf hatte, sagte sie auch schon fast so lange, es sei nur vorübergehend und sie würde sich bald etwas anderes suchen. Ich war zum ersten Mal bei ihr, und auch wenn ich nichts davon gewusst hätte, wäre mir das Provisorische ins Auge gesprungen, nach den immerhin bereits vier Jahren, die sie schon da lebte. In einer Ecke waren mehrere Bananenschachteln gestapelt, die nicht erst seit ein paar Tagen dort zu stehen schienen, als Bücherregal dienten Obstkisten, und ich bemühte mich, meine Blicke vor ihr zu verbergen, als ich sah, dass sich an mehreren Stellen die Tapete von der Wand löste. Die ganze Wohnung hätte entstaubt gehört, die Fenster geputzt, die gegen die Sonne von einer dicken Schmutzschicht überzogen waren, und so wie Judith gewöhnlich in den Unterricht kam, wollte das nicht zu ihr passen. Da legte sie Wert auf ihre sorgfältig ausgewählte Kleidung aus zweiter Hand, aber von höchster Qualität, und hatte auch sonst eine Ausstrahlung, dass man sich unwillkürlich fragte, warum sie unsere Stadt nicht ein für alle Mal hinter sich ließ. Sie leistete sich einen großen, alten Mercedes, der sich mit seinen Chromverzierungen unter den Mittelklasse- und Sparmodellen auf dem Parkplatz vor der Schule wie der reinste Luxus ausnahm, obwohl er kurz vor dem Auseinanderfallen war, und an den Samstagen packte sie ihn nach der letzten Stunde manchmal voll mit Schülern aus den oberen Klassen und fuhr mit ihnen übers Land, ohne sich im geringsten um die Provokation zu kümmern, die das für viele Kollegen bedeutete.
Ich muss kaum betonen, dass von diesem leicht morbiden Glanz nicht viel übrigblieb, so wie sie jetzt dastand. Sie war allein zu Hause, ihr Sohn, von dem es an jeder Wand Bilder gab, bei seinen Großeltern, und ich kannte die Geschichten, dass er wie ein Vier- oder Fünfjähriger war, mit seinen knapp zehn Jahren, obwohl Judith selbst nie etwas davon anklingen ließ. Von den Kollegen hatte ihn fast noch niemand zu sehen bekommen, aber deswegen war er nur um so mehr präsent, auch hier in der Wohnung, ein lachendes, geradezu schmerzhaft offenes Gesicht auf allen Fotos, mit weit auseinanderstehenden Augen und dem seligen Ausdruck eines Unschuldslammes. Ich schaute mir die Bilder eines nach dem anderen an und merkte, wie Judith meinen Blicken folgte. Dabei hatte ich den Eindruck, sie goutiere meine Aufmerksamkeit, aber als ich schon dachte, sie wolle etwas dazu sagen, fixierte sie mich plötzlich, wie um mir klarzumachen, dass es nun allmählich genug sei.
»Du kommst wegen Daniel, stimmt’s?«
Sie stand noch immer am Fenster, in einer dünnen Strickjacke über dem Pyjama, und lachte, als ich sagte, ich hätte mir Sorgen gemacht, weil niemand in der
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