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Eine Ahnung vom Anfang

Titel: Eine Ahnung vom Anfang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Norbert Gstrein
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auf einmal leise und wie für sich selbst sprach, horchte ich auf und verstand jedes Wort.
    »Der Witz bei ihm ist doch gerade, dass er sich nicht hat retten lassen. So viel sollte einer, der auch noch stolz darauf ist, dass er Jesus genannt wird, wenigstens wissen. Der Witz bei ihm ist, dass er sich geopfert hat.«
    Es war nicht nur das Wort, das mich traf. Judith konnte von meinem Gespräch mit Agata über Robert und darüber, wie im Bruckner über ihn und seinen Tod gesprochen wurde, nichts wissen, aber ich dachte natürlich augenblicklich daran, und ich dachte an die Geschichte von Abraham und Isaak und was für eine Perversion das war, auch wenn es dem Stammvater noch gelungen sein mochte, seinen Sohn vor Gott zu retten, während dieser selbst dann den eigenen bekanntlich ja ans Kreuz schlagen ließ. Ich schwieg und schaute sie nur an, und so wie sie immer noch am Fenster verharrte, ihre Haare ins Gesicht gefallen, deutete nichts darauf hin, was sie gerade gesagt hatte. Die Arme vor der Brust verschränkt, lehnte sie scheinbar gleichgültig an der Wand, und ich nahm das als Aufforderung zu gehen. Den Wein hatte ich nicht angerührt, und auch ihr Glas stand noch voll auf dem Tisch, wie um das Scheitern unserer Unterhaltung zu verdeutlichen. Ich erhob mich und verabschiedete mich, und erst als ich draußen war, wurde mir klar, was mich so erschütterte. Trotz meiner Nähe zu Daniel und trotz seiner Auffälligkeiten hatte ich geglaubt, ich lebte in einer ganz und gar säkularen Welt, und musste jetzt erkennen, wie wenig es brauchte, dass von den Rändern dieser religiöse Überhang hereinbrach. Das Eifern der Frau des Direktors hatte ich noch hingenommen, so etwas gab es immer, bei Herrn Bleichert gehörte die Verblendung zum Beruf, und er würde sicher jederzeit einen Bus voll Leute finden, die mit ihm nach Jerusalem pilgerten, aber dass mit Inspektor Hule ausgerechnet ein Polizist schwadronierte, zwischen einem Terroristen und einem Heiligen sei vielleicht kein so großer Unterschied, ließ mich doch zweifeln, und nun bediente sich auch noch Judith dieses Vokabulars, die sonst immer nur davon abgestoßen gewesen war. In solchen Gedanken ging ich über den Vorplatz vor den Hochhäusern, und ich brauchte mich gar nicht umzudrehen, ich wusste, dass sie mir nachsah, weil ich ihren Blick in meinem Rücken spürte.
    Ich hatte Judith für eine Frau gehalten, der das Leben nichts anhaben konnte, auch wenn ich, noch während ich das hinschreibe, zugeben muss, dass das von den dummen Sätzen einer der dümmsten ist. Sie war damals die erste gewesen, die sich für die Theatergruppe gemeldet hatte, noch vor Daniel und Christoph, und wenn ich jetzt daran dachte, wie wir uns zweimal in der Woche in der Turnhalle zum Proben getroffen hatten, schien das eine halbe Ewigkeit her. Der Schweiß des vorherigen Zirkeltrainings war noch in der Luft gehangen, und der Raum, den wir uns mit Böcken, Barren und Schwebebalken für eine Bühne abgrenzten, hatte etwas gewollt Avantgardistisches, eine Mischung aus einer modernen Folterkammer, mit den über unseren Köpfen hängenden Ringen, und einem noch unfertigen Ballettsaal, in dem jede ihrer Bewegungen ebenso anmutig wie archaisch wirkte. Die Sprungbretter auf dem Boden hätten Katapulte in den Himmel sein können, aber auch Falltüren in den Abgrund, und wenn sie mit zwei oder drei Schritten auf eines zulief und sich davon abstieß, gerann der nächste Augenblick zu einem Standbild, in dem ihr graziles Schweben festgehalten war. Das Ächzen von ihrem Absprung hallte einem danach noch eine Weile in den Ohren wie das Klacken eines überdimensionierten Fotoapparats, aber da lehnte sie schon an einem Pferd und starrte zurück auf die Stelle, als könnte sie dort einen Schatten von sich selbst sehen. Solange es in diesem Herbst noch warm war, trug sie bei unseren Treffen verträumt lange Kleider in hellen, mädchenhaften Farben, die aus der Jugend ihrer Mutter stammten und in die sie in den Monaten davor höchstens zu Hause vor dem Spiegel geschlüpft war, die sie jetzt aber anhatte wie den Habit einer geheimen Schwesternschaft, zu deren Ordensregeln die Ausschweifung gehörte. Das hatte ich auf einmal alles wieder so deutlich vor Augen, dass ich es nicht mit der Frau zusammenbringen wollte, die wie in ihrer Wohnung gefangen war. Auch Judith hatte ich damals gefragt, was sie später machen wolle, und ich erinnere mich noch an ihr Lachen und wie sie sagte, was für eine Ehre, dass ich auch ihr

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