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Eine Ahnung vom Anfang

Titel: Eine Ahnung vom Anfang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Norbert Gstrein
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Schule wisse, was mit ihr sei.
    »Jetzt weißt du es«, sagte sie, und ihr Blick fiel auf die Weinflasche, die vor mir auf dem Glastisch stand und bis auf einen winzigen Rest geleert war. »Willst du etwas trinken?«
    Ich nickte, und als sie auf dem Weg in die Küche hinter mir stehenblieb und mir die Hände auf die Schultern legte, war ihre Stimme ganz nah an meinem Ohr, auf eine Weise weich und gleichzeitig rauh, dass ich sie kaum wiedererkannte.
    »Das hättest du von deiner Judith nicht erwartet. So viele Jahre an der Schule und nie unangenehm aufgefallen, nie der geringste Grund zur Klage. Eine nette Kollegin, mit der man sich einmal in der Woche über die wichtigen Dinge des Lebens unterhalten kann, ohne auch nur irgend etwas von ihr zu wissen. Du hast gedacht, sie ist ein braves Mädchen, und jetzt bist du enttäuscht.«
    Es gelang mir nicht, mich umzudrehen. Ich wartete darauf, dass sie lachen würde, wieder dieses sarkastische Lachen von vorhin, als wollte sie damit sagen, dass es jedem freistehe, mit seinem Leben zu tun, was er will, aber sie lachte nicht. Sie hatte losgelassen, aber ich spürte ihre Hände noch auf meinen Schultern und wusste nichts Besseres, als meine Augen zu schließen, obwohl ich lieber die Ohren verschlossen hätte. Eine Weile hörte ich sie in der Küche herumrumoren, und als sie mit zwei Gläsern und einer neuen Flasche zurückkam und einschenkte, war ich froh, dass ihre Stimme wieder ihre Stimme war und sie über Daniel sprach, als hätte es diesen Ausfall nicht gegeben.
    »Ich habe deinen Besuch erwartet«, sagte sie. »Du willst über ihn reden. Also los, bringen wir es hinter uns. Sag schon, was du wissen möchtest.«
    Es hätte mir in dem Augenblick nicht viel Dümmeres einfallen können, als sie zu fragen, ob er sich bei ihr gemeldet habe, und doch tat ich es. Ich war noch so irritiert von ihren Worten, dass ich wahrscheinlich deswegen nicht achtgab. Dabei hätte ich wissen müssen, wie unmöglich das war. Ich brauchte nur an Daniels Zudringlichkeiten zu denken, von denen sie mir schon vor Jahren erzählt hatte, um zu ahnen, was das für sie bedeutete, die wie aus dem Nichts kommenden nächtlichen Anrufe, bei denen er ihr aus dem Hohenlied zitierte und die schon damals für sie eine Drohung waren. Dazu kam der groteske Auftritt, den er sich bei ihrer Hochzeit geleistet hatte und der immer noch allenthalben Kopfschütteln auslöste, wenn darüber gesprochen wurde. Sie hatte ihn eingeladen, in der Hoffnung, ihn so kontrollieren zu können, und sogar die Idee gehabt, ihn zu ihrem Trauzeugen zu machen, und er dankte es ihr, indem er es darauf anlegte, mit seinem unmöglichen Verhalten die Festgesellschaft zu sprengen. Er trat immer, wenn sie sich nur anschickte zu tanzen, auf sie zu und insistierte, eigentlich sei die Reihe an ihm, ließ sich nicht abwimmeln, drohte, es gehe um Leben und Tod, sie würden sich nie wiedersehen, wenn sie ihn nicht augenblicklich erhöre, und verfiel am Ende tatsächlich auf den Irrsinn, entweder er bekomme den nächsten Tanz oder er laufe zur Tankstelle hinunter, übergieße sich mit Benzin und zünde sich an. Ich stand ganz in der Nähe und hörte es selbst, und was man unter anderen Umständen vielleicht als aufdringliche und aus dem Ruder gelaufene Galanterie eines Betrunkenen hätte abtun können, war durch seine Beharrlichkeit längst ein Skandal. Sie sagte nur, es reiche allmählich, aber wenn ich daran dachte, wie sie ihn dabei ansah, konnte ich mir nichts vormachen. Es war der gleiche Ausdruck, der sich auch jetzt in ihrem Gesicht widerspiegelte, und da half kein Herumreden, da half keine Beschwichtigung, sie hatte Angst.
    »Ob er sich bei mir gemeldet hat?«
    Ich wollte mich entschuldigen, aber es war zu spät. Sie hatte sich in einen der Fauteuils fallen lassen, stand jetzt noch einmal auf und ließ sich wie erschlagen wieder hineinsinken, während sie mich fragte, wie ich das meinte. Erst da wurde mir klar, dass sie nur deswegen nicht in der Schule war, dass sie nur deswegen nicht ans Telefon ging und die Tür nicht öffnete, damit Daniel sie nicht erreichen konnte. Als ich zu einer Erklärung ansetzte, winkte sie auflachend ab und sagte, ihr habe schon das »Kehret um!« gereicht, aber mit dem »Wehe dir, Chorazin! Wehe dir, Betsaida!« habe sie die Botschaft endgültig empfangen und sie wolle nicht warten, bis etwas passiere und danach alle wieder einmal wüssten, dass man es schon vorher hätte ahnen können und es unverständlich sei,

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