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Eine Ahnung vom Anfang

Titel: Eine Ahnung vom Anfang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Norbert Gstrein
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ungläubig an.
    »Die Verranntheiten eines Dominikanermönchs aus dem fünfzehnten Jahrhundert. Was soll man sich heute darunter vorstellen? Die kann er sich doch unmöglich als Vorbild genommen haben.«
    »Stimmt«, sagte er. »Aber er war nun einmal so.«
    Dann erst erklärte er, was er damit meine.
    »Er wollte mit den anderen Schülern in Paaren durch die Stadt ziehen und die Leute auffordern, Dinge herauszurücken, ohne deren Besitz sie glücklicher wären. Es hätten Bücher von zweifelhaftem Inhalt sein können, Musik jeder Art genauso wie Schmuck, das Spielzeug von Kindern oder was auch immer ihnen sonst an unnötigem Tand eingefallen wäre. Er hätte alles gesammelt und in einer öffentlichen Veranstaltung vor der Schule verbrannt.«
    »Das kann nicht dein Ernst sein«, sagte ich. »Sind das nicht die Methoden der Taliban? Willst du etwa gar behaupten, ein Zwölfjähriger kommt von allein darauf? Das erfindest du doch nur.«
    »Ich versuche dir ja gerade zu sagen, dass es nicht dazu gekommen ist«, sagte er. »Ich habe es ihm natürlich ausgeredet, aber ob du es glaubst oder nicht, die Absicht war da.«
    Mir ist nicht klar, warum ich mich in diesem Augenblick vor ihm ekelte, aber es hatte damit zu tun, dass er sowohl der Initiator als auch der Denunziant dieser Verrücktheit war. Ich stand schon im Bruckner, als ich noch darüber nachdachte und mich amüsierte, wie er schließlich von mir abgelassen hatte und mit Verwindungen davongeeilt war, als wäre ihm selbst endlich aufgegangen, was für einen verheerenden Eindruck er erzeugte. Er hatte einen o-beinigen Fußballergang, was mir für einen Priester bemerkenswert erschien, und wirkte, kaum dass er sich ein wenig gelockert hatte, bei jedem Schritt auf fast schon obszöne Weise vergnügt über die Beweglichkeit seiner Hüften. Ich fand keine Erklärung, warum er mir die Geschichte überhaupt erzählt hatte, bloße Tratschmäuligkeit allein war es wohl kaum, und er konnte auch nicht glauben, dass ihr wirklich Beweiskraft zukam, er musste etwas anderes damit bezwecken, und wenn nur, dass er sich noch einmal wichtig machen wollte. Gefragt hatte ich ihn nicht, ob es üblich sei, vor Schülern in diesem Alter über Savonarola zu sprechen, oder ob nur er das tue, und in welches Licht er dessen Diktatur Gottes mit ihrer Tugendtyrannei gestellt habe. Manchmal streifte ich das Thema selbst im Geschichtsunterricht, wenn ich über die Renaissance sprach und die Auswüchse jener Zeit, aber dass er das in der Religionsstunde unternahm, war eine andere Sache, und ich wusste, er war der letzte, der Daniel falsche Ideale vorwerfen konnte, zumal er sie ihm womöglich erst eingepflanzt hatte. In dieser Beziehung empfand ich ihn als wandelnden Widerspruch, und wenn ich ihn bei seinen Schlenkerbewegungen beobachtete, sagte ich mir, dass die Sünde vielleicht wirklich erst durch das Gesetz in die Welt gekommen war, wie man im Römerbrief lesen kann, durch die Möglichkeit seiner Übertretung genauso wie durch die Möglichkeit seiner Erfüllung und Übererfüllung.
    Eigentlich hatte ich vorgehabt, gleich nach dem Mittagessen zum Haus hinauszufahren, aber jetzt überlegte ich es mir anders und entschied mich, Judith aufzusuchen. Sie war wieder nicht in der Schule gewesen, weiter krank gemeldet, aber keiner wusste, was sie hatte. Ich rief bei ihr an, und als niemand ans Telefon ging, wiederholte ich eine halbe Stunde später den Versuch, ließ es lange klingeln, jedoch wieder vergeblich, und nahm mein Unbehagen zum Anlass, einfach hinzugehen. Sie wohnte in einem der Hochhäuser beim Fußballplatz, und auf meinem Weg dorthin kam ich an der Polizeiwache vorbei. Zuerst wollte ich hinten herum, doch dann fiel mir ein, ich verhielte mich damit ja wie ein Schuldiger, und ich schlenderte direkt am Eingang entlang. Weil ich nicht wusste, ob Inspektor Hule Dienst hatte, unterdrückte ich den Impuls, einzutreten und ihn mit der größten Selbstverständlichkeit nach einem Kaffee zu fragen. Ich hätte ihm nichts sagen können, was ihm nicht schon bekannt war, und er hätte umgekehrt mir ohne Zweifel unterstellt, ich sei selbst vor allem gekommen, um in Erfahrung zu bringen, ob es etwas Neues gab, was wiederum nur ein Indiz dafür wäre, dass ich kein reines Gewissen hatte.
    Ich weiß nicht, was mich so sicher machte, dass Judith zu Hause war. Als ich mich der Siedlung näherte, ließ sich, wie so oft in unserer Stadt, wieder einmal kein Mensch blicken, was bei mir von neuem die paradoxe

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