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Eine Ahnung vom Anfang

Titel: Eine Ahnung vom Anfang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Norbert Gstrein
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warum niemand etwas getan habe.
    »Vor diesem religiösen Wahn bei ihm habe ich immer schon Angst gehabt«, sagte sie. »Weißt du, wie er meinen Buben genannt hat?«
    So entsetzlich es ist, ich wusste es, bevor sie es aussprach.
    »Er hat ihn eine Strafe Gottes genannt.«
    Um an der gegenüberliegenden Wand eines der Bilder des Jungen zu sehen, brauchte ich nur den Blick ein wenig zu heben. Es war eine Aufnahme, wie er offensichtlich mit Anlauf von einem Bootssteg ins Wasser sprang, seine Augen geschlossen, die Arme hoch erhoben und noch die Finger in den Himmel gereckt, und im Hintergrund am Ufer war eine Gestalt zu erahnen, hinter der sich wahrscheinlich Judith verbarg, die ihm zuschaute. Das Gerede wollte, dass sich ihr Mann seinetwegen aus dem Staub gemacht habe, und ich ärgerte mich, dass ich genau jetzt daran dachte. Sie hatte ihn ein paar Monate vor der Hochzeit wie aus dem Nichts hervorgezaubert, einen Handelsverteter, passgenau aus einer Kontaktanzeige, und ein paar Monate danach ohne Anwendung eines besonderen Tricks wieder verschwinden lassen. Er hatte immer öfter auswärts zu tun, war manchmal ganze Wochen verreist, und irgendwann hieß es, er sei nach Wien gezogen und sie überlege sich, ihm so bald wie möglich zu folgen, aber ich wusste natürlich, dass das nie geschehen würde. Indessen hätte ich viel darum gegeben, wenn mir ein sinnvoller Satz eingefallen wäre, um Daniels schreckliches Verdikt wieder aus der Welt zu schaffen. Es klang mir in den Ohren nach, aber ich wusste nicht, was sagen, und hörte in meiner Hilflosigkeit nicht auf, den Jungen anzuschauen, die weiße, schmale Knabenbrust mit den kaum vorhandenen Schultern, seinen leicht vorstehenden Bauch, die angewinkelten Knie.
    »Warum sollte er eine Strafe Gottes sein?«
    Damit wandte ich mich wieder Judith zu, die leise zu weinen begonnen hatte, jetzt aber hochfuhr, sich in ihrem Fauteuil aufsetzte und sich verwahrte, wenn Daniel so etwas sage, sei es eine Verrücktheit, aber von mir wolle sie den Unsinn nicht einmal als rhetorische Frage gehört haben.
    »Ich ertrage das nicht mehr«, sagte sie. »Es beginnt mit seinen Worten. Eine Strafe Gottes? Wo leben wir denn? Eine Strafe dafür, dass ich nicht ins Kloster gegangen bin? Gleichzeitig sagt er, ich hätte ihn retten können.«
    »Deinen Sohn?«
    »Nein, ihn selbst. Das ist ja das Lächerliche. Wie hätte das denn gehen sollen? Als hätte sich dieser verdammte Jesus nicht schon vom Reverend retten lassen.«
    Dass sie Daniel so nannte, hatte ich lange nicht mehr gehört, und es schwang nicht nur Spott mit wie damals im Sommer, als sie es zum ersten Mal getan hatte, draußen am Fluss, und sich damit von ihm verabschiedete, als verabschiedete sie sich für immer, es war jetzt auch Abscheu und Verachtung. Ich erinnerte mich, wie sie dann mit dem Rad davongefahren war, und ließ sie gleichzeitig nicht aus den Augen, während sie mit den Handrücken sanft ihre Wangen abtupfte. Sie war da schon schwanger gewesen, in den ersten Wochen, und wenn ich daran dachte, wie Daniel von ihr sprach, konnte er sich das wahrscheinlich nicht einmal vorstellen.
    »Du hast recht, es ist lächerlich«, sagte ich, wie um das Thema zum Abschluss zu bringen. »Aber vielleicht ist doch etwas dran.«
    Natürlich wusste ich im selben Augenblick, dass ich auch das nicht hätte sagen sollen, aber die Heftigkeit ihrer Reaktion kam doch als Überraschung für mich.
    »Woran?« stieß sie hervor. »Sag nur nichts Falsches.«
    »Dass du ihn hättest retten können.«
    »Ich hätte ihn retten können?« sagte sie, indem sie aufsprang und vor mir auf und ab zu laufen begann. »Wie meinst du das?«
    »Du weißt schon«, erwiderte ich. »Ein Leben kann wegen einer winzigen Entscheidung in eine ganz andere Richtung verlaufen.«
    »Ich weiß gar nichts und will auch nichts wissen«, sagte sie und wurde noch aufgebrachter. »Welche Entscheidung? Ich hätte ihn retten können, wie eine Frau einen Serienmörder retten kann, bevor er zum Serienmörder wird. Wenn du das meinst, ist es erstens vollkommener Unsinn und zweitens nur scheußlich.«
    Es half nichts, dass ich sie zu beschwichtigen versuchte. Sie trat wieder ans Fenster, zog die Gardine beiseite und schaute hinunter auf den Vorplatz, als wäre ich nicht da, während sie sagte, es handle sich ohnehin um ein einziges Missverständnis, wenn man an den richtigen Jesus denke. Sie war die letzte, von der ich erwartet hätte, dass sie darauf Bezug nehmen könnte, und obwohl sie

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