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Eine Ahnung vom Anfang

Titel: Eine Ahnung vom Anfang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Norbert Gstrein
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nicht lohnte, noch mehr Gedanken daran zu verschwenden.
    »Wenn Sie wüssten, aus welchen Gründen die Leute so etwas tun, würden Sie nur den Kopf schütteln«, sagte er. »Es ist die ganze Palette, die sie auch sonst aus der Bahn wirft, Langeweile oder Liebeskummer, oder wenn Sie wollen, können Sie es auch das ganz normale Leben nennen.«
    Ich war genauso überrascht von seiner Gesprächigkeit wie davon, dass er jetzt auf einmal in vollständigen Sätzen redete, und dann kam er mit etwas, das ich von ihm nicht erwartet hätte. Er blies in seinen Kaffee und sagte, wie schwer es sei zu leben, wenn man nichts habe, wofür man sich vorstellen könne zu sterben, das sei doch genau die Erfahrung, die viele Menschen heutzutage machten und mit der manche ganz einfach nicht zurechtkämen. Das hätte auch Daniel einfallen können, in jenem Sommer am Fluss, als es darum ging, was er nach der Matura tun wolle, aber noch mehr bei seiner Rückkehr in das Haus für die zwei Wintermonate, als schon klar war, dass all das, was sich anbot, kein Weg und wahrscheinlich nicht einmal ein Ausweg war. Er hatte gesagt, leben, nur um zu leben, sei gleich absurd wie leben, um zu sterben, und ich erinnerte mich wieder an seine Vorliebe für solche Gespräche, an seinen Hang zum Paradoxen, zum Wortspielerischen, zum scheinphilosophischen Tiefsinn. Damals hatte ich die fehlende Variante ergänzt, sterben, um zu leben, und er hatte mich angestarrt und erwidert, das sei nicht mein Fach, das müsse ich schon Herrn Bleichert überlassen, aber wenn man daran glaube, sei es wohl die beste Möglichkeit. Es hatte gewiss mit dem Alter zu tun, war der Idealismus und Defätismus der Jugend, nur dass es sich bei ihm nicht änderte und er mit den Jahren, in denen andere ihre Ausflüge ins Existentialistische belächelten und froh Bestand aufnahmen, dass sie waren, was sie waren, und hatten, was sie hatten, sich immer mehr darin verbiss. Auf einmal fielen mir wieder seine Listen ein, die er mit immer neuem Eifer erstellt hatte, seine Wichtig-Unwichtig-Listen, seine Was-noch-zu-tun-ist-Listen, in deren letzter Fassung ich die Zeile »Einen Menschen lieben« fand.
    Daran zu denken irritierte mich. Ich war nicht auf ein solches Gespräch vorbereitet, jedenfalls nicht mit Inspektor Hule, weshalb ich überlegte, wie ich es in andere Bahnen lenken konnte. Wahrscheinlich hätte schweigen gereicht, aber ich zitierte ihn ironisch.
    »Ach ja, das ganz normale Leben«, sagte ich, als haftete ihm etwas hoffnungslos Inflationäres an. »Seit wann fällt das in die Zuständigkeit der Polizei?«
    Ich dachte, ich hätte nur einen Allgemeinplatz ausgesprochen, aber nachdem er die ganze Zeit eher gelangweilt gewesen war, sah er mich jetzt mit neuem Interesse an.
    »Wir beschäftigen uns mit nichts anderem«, sagte er, und ein Ton der Zurechtweisung war unüberhörbar. »Genau deshalb sind wir überhaupt hier.«
    Natürlich hatte ich es ihm leichtgemacht, und als er aufstand und sich streckte, wusste ich nicht, ob ich das als Aufforderung nehmen sollte zu gehen, blieb aber sitzen und beobachtete ihn, wie er anfing, vor mir auf und ab zu schreiten. Hinter der Glasscheibe klingelte ein Telefon, und was ich davor nur als Schemen wahrgenommen hatte, entpuppte sich als seine junge Kollegin, die uns die ganze Zeit zugehört hatte. Sie nahm den Hörer ab, und nach einem Ja und einem Nein legte sie wieder auf, während er schwieg und ich zu der Uhr schaute, die über dem Schalter hing. Erst jetzt fiel mir auf, wie schummrig das Licht war, wenn sich das Flackern stabilisierte, und gleichzeitig von einer Schärfe, die den Gegenständen einen dicken, wie mit Kohlestift gezogenen Rand verlieh. Der Inspektor wirkte blass darin, und ich wusste, genauso blass musste ich selbst aussehen, blass und unvorteilhaft wie auf einem Polizeifoto, auf dem man nicht zu blinzeln wagt, weil man weiß, ein Augenblick mit geschlossenen Augen, eine Sekunde oder nur der Bruchteil einer Sekunde, und es könnte die Aufnahme einer Leiche sein.
    Bis dahin hatte ich mir die Frage nach dem Bild in der Zeitung verkniffen, und als ich mich jetzt erkundigte, ob es schon Reaktionen gebe, belustigte das den Inspektor.
    »Soll ich Ihnen sagen, wie viele Anrufe wir gehabt haben?«
    Er blieb lachend mitten im Schritt stehen und wandte sich an seine Kollegin, als wollte er demonstrieren, welche Verschwendung es sei, wenn eine Person mit seinen Dienstjahren und seiner Erfahrung sich ernsthaft mit solchen Dingen

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