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Eine Ahnung vom Anfang

Titel: Eine Ahnung vom Anfang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Norbert Gstrein
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die Bücher, die ich ihm empfohlen hatte, darunter immerhin Die Schlafwandler von Broch, würden ihn vielleicht abschrecken, und registrierte erleichtert, dass dann zumindest vorläufig nichts weiter geschah. Ich hatte Angst vor der ersten Unterrichtsstunde am folgenden Dienstag, weil ich erwartete, dass er sich Dinge herausnehmen würde, mich womöglich vor der Klasse provozieren, wie er mich an dem Samstag provoziert hatte, aber er saß an seinem Platz, als hätte es diese Unterredung zwischen uns nicht gegeben. Er beobachtete mich, das ja, und ich war nervös, ich wagte kaum, ihm den Rücken zuzukehren, und überlegte mir vor jedem Satz, wie er klänge, wenn er wiederholt würde, aber gegen Ende der Stunde stellte ich ihm eine Frage, und er schaute mich an und antwortete ohne Ironie, ohne die Unterstellung von Kumpanei oder sonst etwas, das mich kompromittiert hätte. Ich beeilte mich, mit dem Klingeln so schnell wie möglich das Klassenzimmer zu verlassen, damit er mich nicht abfangen konnte, aber schon in der nächsten Stunde verzichtete ich darauf, und als einziges blieb, dass er mich von da an alle ein oder zwei Wochen um neue Buchempfehlungen bat. Er hatte die ersten Bücher gelesen oder behauptete das jedenfalls, weil er nicht sagte, ob sie ihm gefielen, aber ich wusste nicht, wo er sie sich besorgt hatte oder besorgt haben wollte. Weder dürften sie alle in der Schulbibliothek zu finden gewesen sein noch er in der Lage, sie sich zu kaufen, und die Zeit, in der er sie sich bei mir ausborgte, sollte erst kommen.
    Ich kann nicht sagen, dass mir in seinen Aufsätzen damals etwas auffiel. Es wäre eine nachträgliche Interpretation, um die Dinge schlüssig erscheinen zu lassen. Gut geschrieben, das waren sie, will sagen, zumindest keine Fehler in der Orthographie, die richtige Interpunktion und oft genug sogar ein unerwarteter Gedanke, eine überraschende Formulierung, aber ich mache mir nichts vor, der nackte, ungeschützte Idealismus, der darin zu finden war, kommt und geht in der Regel mit dem Alter und ist manchmal die einfachste Art, den Lehrer zufriedenzustellen, oder das, womit Schüler glauben, einen zufriedenstellen zu können. Im Grunde genommen ist es ein System doppelter Täuschung, denn nach einer Schulstunde existiert kein Weltproblem, für das es nicht Lösungsvorschläge gibt, mit einer aparten Gliederung in Einleitung, Hauptteil und Schluss, und wehe, wenn man nichts anderes zu sagen hat, als dass die Sache in Wirklichkeit komplizierter sei und es auf die richtigen Kompromisse ankomme, wehe, wenn man den Anschein erweckt, man glaube nicht an das Gute in der Welt, glaube nicht an die Möglichkeiten der Menschheit und des Menschen, seine Bestimmung zum Glück und das Recht auf ein schönes Leben vor dem Tod.
    Damit will ich nicht abschweifen, sondern nur andeuten, warum der Artikel, den Daniel im Frühjahr darauf über seine zwei Wochen in Israel für die Zeitung schrieb, für mich einerseits eine Überraschung war, andererseits dann aber auch wieder nicht. Er war als einer von zwei Schülern auserkoren worden, Herrn Bleichert auf einer Reise ins Heilige Land zu begleiten, die dieser über Ostern mit einer Gruppe von Pilgern unternehmen wollte, und das Ergebnis hatte es in sich. Das Blatt kommt gratis mit der Post, eine Mischung aus Werbeanzeigen und regionalen Nachrichten, aber ich lese es nicht, werfe es immer gleich zum Altpapier, so dass ich erst aufmerksam wurde, als der Direktor mich in sein Büro rief und fragte, ob ich mehr dazu wisse. Herr Bleichert hatte seinen freien Tag, und also sollte statt seiner ich ihm Auskunft geben. Es war neun Uhr am Morgen, und er hatte schon drei Anrufe bekommen, welch himmelschreiender Unfug im Zusammenhang mit der Schule verbreitet werde, was damit zu tun hatte, dass der Artikel nicht nur mit Daniels Namen gezeichnet war, sondern man darüber hinaus erfuhr, er sei Oberstufenschüler des Gymnasiums und mache in zwei Jahren die Matura.
    »Schau dir das an«, sagte der Direktor, als ich sein Büro betrat, und hielt mir die aufgeschlagene Zeitung hin. »Wenn mich nicht alles täuscht, haben wir ein Problem.«
    Er bat mich, Platz zu nehmen, und stellte sich ans Fenster, während ich den Artikel überflog. »Das Land Israel« war die Überschrift, darunter stand »Eindrücke von einer Pilgerreise in das Heilige Land«, und am Ende folgte die Ankündigung, es handle sich um den Anfang einer Serie, die in den kommenden Wochen mit drei weiteren Folgen fortgesetzt

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