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Eine Ahnung vom Anfang

Titel: Eine Ahnung vom Anfang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Norbert Gstrein
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bedachte, wartete er die Antwort nicht ab und sagte zu seiner Sekretärin, sie könne den Jungen jetzt hereinbitten, als wäre ich schon nicht mehr da. Ich ging hinaus, während Daniel, der auf dem Flur gewartet haben musste, eintrat, und es gab einen Augenblick an der Schwelle, in dem er mich fixierte, als wüsste er nicht nur, worum es ging, sondern als wäre ich von Anfang an auch Mitwisser gewesen, oder er hätte, was er getan hatte, in meinem Sinn getan oder zumindest unter der Voraussetzung, ich würde es billigen. Natürlich konnte ich mich täuschen, aber es war Aufruhr und Genugtuung in dem Blick, und noch etwas anderes. Er sah mich tatsächlich an, als hätten wir ein enges Verhältnis, wie der Direktor es genannt hatte, ja, er schien es richtiggehend darauf anzulegen, dass dies der Sekretärin nicht entging, und es zu genießen, als er merkte, dass sie unschlüssig zwischen uns hin- und herblickte.
    Ich habe erst sehr viel später erfahren, wie Daniels Gespräch mit dem Direktor verlaufen war, im Grunde genommen erst in jenem Sommer am Fluss, in dem wir auch auf die ganze Geschichte zu sprechen kamen und ich ihn direkt danach fragte.
    »Wie soll es schon gewesen sein«, sagte er. »Er ist vor mir auf und ab gelaufen und hat wissen wollen, ob ich mir vorstellen kann, in welchen Ruf ich die Schule bringe.«
    Obwohl er seinen Gang nicht einen Augenblick unterbrach, schien der Direktor ruhig bleiben zu wollen, aber am Ende stand ein Wutausbruch.
    »Mir kannst du nichts vormachen. Das ist alles aufgesetztes Zeug, das dir der Pfarrer ins Hirn geschissen hat. Ich nehme dir nicht ab, dass du selbst ein einziges Wort von dem glaubst, was du schreibst.«
    »Aber ja doch«, sagte Daniel. »Das tu’ ich.«
    »Dieses erbärmliche Jesus-Gesülze.«
    »Tut mir leid, Herr Direktor, wenn ich Ihnen widerspreche«, sagte er. »Aber ich muss Ihnen sagen, ich glaube es.«
    Er war mehr als eine Stunde weg, und als er in die Klasse zurückkam, hatte ich gerade dort Unterricht, aber er ließ sich nichts anmerken und setzte sich still in seine Bank. Es mochte sein, dass er mich noch aufmerksamer im Blick behielt als sonst, doch er sprach mich in der Pause nicht an, wie ich es erwartet hatte. Die drei Folgeartikel erschienen dann nicht, statt dessen ein kleines Editorial, das mit Herrn Frischmanns Initialen unterzeichnet war und in dem er sich tatsächlich die raunende Formulierung erlaubte, gewisse Kreise in Wien würden Anstoß daran nehmen, dass das heutige Israel, ob ihnen das passe oder nicht, seinerzeit auch das Land Jesu gewesen sei, und man verzichte daher auf eine Fortsetzung des Reiseberichts, behalte sich aber vor, zu gegebener Zeit darauf zurückzukommen. Herrn Bleicherts Basstimme dominierte eine Weile nicht mehr die Gespräche im Konferenzzimmer, woraus ich schloss, dass er einen ziemlichen Rüffel bekommen hatte, und was sich zu einem Skandal hätte auswachsen können, versandete in Getuschel und Schweigen. Ich machte mir schon keine Gedanken mehr darüber, als ich wenige Tage nach dem Eklat eine Einladung des Direktors zum Abendessen erhielt und seine Frau dabei plötzlich anfing, von Daniel zu schwärmen.
    »Nach allem, was ich gehört habe, scheint er ein bemerkenswerter Bub zu sein«, sagte sie, nachdem sie erzählt hatte, sie habe eine Zeitlang selbst überlegt, an der Reise teilzunehmen. »Ich finde es schade, dass niemand ihn in seiner Haltung bestärkt.«
    Sie war nicht erst nach dem Tod ihres Sohnes gläubig geworden, aber das hatte bei meinen Besuchen nie eine Rolle gespielt, und ich bekam jetzt Angst vor einem Bekenntnis. Ich sah sie an, und sie wirkte seit dem letzten Mal sichtlich gealtert, oder eher war es der besorgte Blick des Direktors, der sie von einem Moment auf den anderen älter machte, eine Frau Mitte Vierzig, der es zusehends schwerer fiel, die Contenance zu wahren. Sie hatte sich wie immer wie zum Ausgehen bereit gemacht, Lippenstift aufgetragen, die Haare hochgesteckt, und schien nicht zu merken, wie er sie anstarrte. Dabei ließ er sie nicht aus den Augen, und es war klar, es gab Dinge, die er von ihr nicht hören wollte, wodurch es für mich zu einem der Augenblicke wurde, die so tiefe Einsicht in die Verstricktheit eines Paares gewährten, wie ich sie nie und nimmer haben wollte. Der Bruchteil einer Sekunde genügte, und ein Mann und eine Frau waren nicht mehr dieselben, ich konnte mir vorstellen, wie sie miteinander umsprangen, wenn ich gegangen war, und das betrübte mich. Ich

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