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Eine Ahnung vom Anfang

Titel: Eine Ahnung vom Anfang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Norbert Gstrein
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werde. Ich begann, aufmerksamer zu lesen, nachdem ich mir einen ersten Überblick verschafft hatte, und der Direktor trippelte währenddessen die ganze Zeit von einem Bein auf das andere. Er kaute an einem Bleistift herum, schaute abwechselnd in die Kastanie vor seinem Fenster und drehte sich dann erwartungsvoll zu mir um.
    »Ziemlich krauses Zeug, was er da schreibt«, sagte ich und suchte seinen Blick. »Wie ist das überhaupt in die Zeitung gekommen?«
    »Das fragst du mich«, sagte er. »Als wüsstest du nicht, wer der Besitzer dieses Käseblatts ist. Du brauchst den alten Heuchler nur sonntags in der Kirche zu sehen. Er war auf der Reise mit dabei, und diese Frömmlerei gehört wohl zu seiner Vorstellung von Aufklärung.«
    »Aber was hat Daniel damit zu tun?«
    »Gerade das möchte ich von dir hören.«
    Er sah mich jetzt an, als wollte er sichergehen, dass ich ihm nicht etwas verheimlichte.
    »Du hast doch ein enges Verhältnis zu ihm.«
    Auch wenn ich es nicht so genannt hätte, widersprach ich ihm nicht und sagte nur, da müsse er sich eher an Herrn Bleichert halten, und es genügte, den Pfarrer zu erwähnen, dass der Direktor lauter wurde. Er rief nach seiner Sekretärin und fragte, ob es ihr schon gelungen sei, ihn zu erreichen, und als sie verneinte, brummte er unwillig. Dann wandte er sich wieder zu mir und bekräftigte, dass es Herr Bleichert gewesen sei, der ihm das eingebrockt habe, und gnade ihm Gott, wenn er ihn endlich in die Finger bekomme.
    »Schließlich hat er dem Unglücksvogel die Reise aufgeschwatzt und sie auch noch aus eigenen Mitteln bezahlt«, sagte er. »Wer fährt bei so etwas eigentlich mit außer den üblichen Betschwestern und ein paar in die Jahre gekommenen Ministranten?«
    Das hatte ich mich auch schon gefragt. Es war als einmalige Gelegenheit angekündigt gewesen, die Orte Jesu kennenzulernen, und wäre im letzten Augenblick fast abgesagt worden, weil wenige Wochen davor ein jüdischer Siedler in der Ibrahim-Moschee von Hebron beim Freitagsgebet in die Menge geschossen und mehr als zwei Dutzend Gläubige getötet und eine noch größere Zahl von ihnen verwundet hatte. Für eine Reise nach Israel hätte es kaum einen schlechteren Zeitpunkt geben können als so kurz nach diesem Attentat, das seither als das Massaker im Patriarchengrab oder das Massaker in der Höhle Machpela traurige Berühmtheit erlangt hat. Bei Krawallen in den Tagen danach waren noch mehr Leute umgekommen, und es wurde mit einem Aufstand in den besetzten Gebieten gerechnet, weshalb ich mir kaum vorstellen konnte, wie die Pilgergruppe in ihrem angemieteten Bus durch das Land gefahren war. Es sollte eine Friedens- und Versöhnungsreise werden, wie es hieß, und Daniel hat mir später erzählt, das sei auch das erste gewesen, was Herr Bleichert zu den Bewaffneten gesagt habe, wenn sie an einer Straßensperre angehalten und nach einer Kontrolle entweder durchgewinkt oder ohne lange Erklärung zurückgeschickt worden seien. Natürlich war es zum Lachen, wenn sie dann den Bus mitten im Gelände abstellten, um eine Feldmesse zu feiern, wenn sie die Soldaten einluden, mit ihnen zu beten, oder wenn sie nach dem Besuch der Geburtskirche in Bethlehem zum »Feld der Hirten« hinausfuhren, in der Kirche dort »Stille Nacht« sangen und sich danach ein paar Palästinenserkinder zusammensuchten, mit ihnen in Sichtweite der Siedlungen von Ostjerusalem das Brot brachen und sie als Dank für ihre Kooperation mit ein paar Münzen und einem Bildchen der Jungfrau und des Kindes bedachten.
    Ja, es war zum Lachen und zum Weinen, ohne jeden Bezug zur Realität, und der Direktor hatte recht, wenn er sich echauffierte.
    »Darauf haben natürlich alle gewartet. Ein Sechzehnjähriger, der ihnen erklärt, wie der Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern nach hundert Jahren und all den Kriegen zu lösen ist. Die Liebe Jesu als Allheilmittel.«
    Einen Tag nach ihrer Rückkehr waren bei einem palästinensischen Selbstmordanschlag auf einen Bus in einer Stadt nicht weit von Nazareth neun Leute ums Leben gekommen. Das war ein Racheakt am Ende der vierzigtägigen Trauerzeit für die Toten von Hebron gewesen, und genau eine Woche später hatte es erneut einen Anschlag gegeben, diesmal mit sechs Toten. Seither war keine weitere Woche vergangen, und es war klar, ein Artikel wie der von Daniel, der nichts davon erwähnte, war für sich schon ein Skandal, wenn er so tat, als wäre eine Reise nach Israel lediglich eine Reise in ein biblisches

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