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Eine Ahnung vom Anfang

Titel: Eine Ahnung vom Anfang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Norbert Gstrein
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befasste.
    »Dorothea, möchtest du es dem Herrn Professor sagen?«
    Sie schien zu wissen, dass es eine rhetorische Frage war, und bemühte sich erst gar nicht um eine Antwort, während er schon darüber hinwegredete.
    »Wir könnten die Karikatur eines Schimpansen abdrucken lassen, der die Zähne entblößt und sich unter den Achseln kratzt, und hätten denselben Ansturm«, sagte er. »Das Land ist voller Denunzianten, und wenn Sie sich an den Spekulationen beteiligen und auch einen Tip abgeben wollen, müssen Sie es nur sagen.«
    Ich war bereits wieder auf der Straße, als ich mich fragte, ob das Zufall war oder ob er erraten hatte, was mich umtrieb. Mit einem unguten Gefühl ging ich über den Parkplatz zurück, wo jetzt auch in dem zweiten Wohnwagen kein Schein mehr zu sehen war, durch das einen Spalt geöffnete Fenster jedoch immer noch Stimmen drangen. Wieder blieb ich einen Augenblick stehen, aber wenn mich vorher das Licht in der Wache zu einem möglichen Übeltäter gemacht hatte, war es jetzt der Ort, an dem ich mich befand, der berühmte falsche Ort und die berühmte falsche Zeit, und ich beeilte mich, nach Hause zu kommen.
    Ich machte mir einen Tee und ging zum Regal mit Roberts Büchern. Sie standen, abgetrennt von meinen anderen Büchern, in ihrem eigenen Bereich, und jetzt verharrte ich davor, als sollten sie wieder eine Antwort geben, die sie schon einmal nicht hatten geben können. Ich hatte sie alle in Istanbul gelesen oder wiedergelesen, die vielen Dutzend Romane, die ich ihm über die Jahre empfohlen, die ich ihm lange gekauft und die er sich dann selbst besorgt hatte. Sie stellten für mich das Naheste dar, was mir von ihm geblieben war, das Persönlichste, das, an dem ich mich festhalten zu können glaubte und an dem ich mich dann natürlich doch nicht festhalten konnte.
    Ich erinnerte mich wieder, mit welchem Widerstand ich Daniel anfangs daran teilhaben ließ, mit welcher Eifersucht, ohne dass ich gleichzeitig anders gekonnt hätte, und wie begierig ich später war, dass er auch noch das letzte von Roberts Büchern las. Nie hatte ich ihm gesagt, dass ich ihm dieselben Titel empfahl, die ich schon meinem Bruder empfohlen hatte, aber ich bin sicher, von einem bestimmten Zeitpunkt an muss er es geahnt haben. Der Anfang war eher zufällig, als er mich zum ersten Mal fragte, was er lesen solle, ich habe ihm die Bücher genannt, die mir gerade in den Sinn kamen, und später war es mir ein Trost, ihn mit den gleichen Welten zu verführen, mit denen Robert sich hatte verführen lassen. Es hört sich an wie ein Experiment, wie eine sanfte Form der Gehirnwäsche, aber ich kann versichern, es steckte nichts Dogmatisches dahinter, mich trieb mehr die Sentimentalität an als der Glaube, ich könnte damit etwas vom Hirn eines jungen Mannes in das eines anderen einpflanzen, einen Hauch seiner Seele, etwas Lebendiges von dem, was er war, bevor er sich entschieden hatte zu sterben.
    Wenn man es so nennen will, waren Bücher auch das letzte Lebenszeichen von Robert gewesen, zwei Wochen nach seinem Tod. Das Schuljahr davor hatte er in Amerika verbracht, in einem Vorort von St. Louis, und es war nach den Sommerferien, als uns eines Tages ein Postsack mit Büchern von dort zugestellt wurde. Er hatte ihn selbst noch aufgegeben, und aus Amerika kommend, hatte dieser Leinensack mit der Aufschrift »U.S. Mail« etwas erschreckend Pathetisches an sich. Es reichte schon, dass er mehr als drei Monate unterwegs gewesen war, und weil Mutter sich weigerte, ihn auch nur anzufassen, so unheimlich war ihr die Sache, lag es an mir, ihn zu öffnen, und ich gebe zu, auch ich zögerte dann vor dem gut verschnürten Bündel. Denn Robert hatte nichts hinterlassen, keine Notiz und schon gar keine Erklärung, und auf einmal stand da dieser Sack aus Amerika wie eine Hinterlassenschaft und Erklärung aus dem Jenseits.
    Ich hatte die Bücher lange nicht mehr in der Hand gehabt, Romane wie Der Kinogeher von Walker Percy, Der große Gatsby von Scott Fitzgerald oder Himmel über der Wüste von Paul Bowles, und als ich jetzt wahllos einige aus dem Regal zog und darin blätterte, erinnerte ich mich, wie Daniel sie in jenem Sommer am Fluss gelesen hatte. Er war mit einer Strohmatte und einem Badetuch unter sich am äußersten Ende der Schotterbank gelegen und nur manchmal zum Haus gekommen, um mich auf eine Stelle hinzuweisen oder sich etwas zu trinken zu holen, während Christoph die letzten Renovierungsarbeiten verrichtete. Sie hatten

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