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Eine Ahnung vom Anfang

Titel: Eine Ahnung vom Anfang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Norbert Gstrein
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Säumnis auf den Weg, aber eine wirkliche Erklärung, was das solle, bekam ich auch am Abend nicht, als Daniel mich bei mir zu Hause besuchte und wir darüber sprachen. Ich trug dem Reverend seine Jacke hinterher, und unmittelbar nachdem er mit seiner Frau und den Mädchen abgezogen war, brachen auch die beiden Jungen auf, als wollten sie vermeiden, von mir zur Rede gestellt zu werden. Ich blieb eine Weile allein draußen am Fluss und ging noch einmal Schritt für Schritt alles durch, jede Frage, jede Antwort, verstand aber ihr Verhalten nur um so weniger. Natürlich war mir das Unbehagen nicht entgangen, das sie während des Gesprächs ausgestrahlt hatten. Christoph war schräg hinter mir gesessen, ich hatte ihn nicht gesehen, aber seine Nähe war mir bewusst gewesen, und Daniel hatte unaufhörlich mit einem Zweig in der Erde herumgestochert und dabei störrisch zu Boden geblickt. Ich hatte die ganze Zeit darauf gewartet, dass der Reverend das Wort direkt an ihn richten würde, aber dann wurde mir klar, warum er es nicht tat. Solange Daniel nicht selbst ein Bekenntnis ablegte, blieb das, was zwischen ihnen geschehen war, etwas Peinliches, und sie würden sich begegnen wie zwei Männer, die sich unter zwielichtigen Umständen getroffen hatten und auf der Straße vorgaben, sich nicht zu kennen.
    Als er bei mir klingelte, war es nach acht, und auch da verloren wir kein Wort über seine Rettung und unterhielten uns zuerst eine Zeitlang über das Buch, das ich am späten Nachmittag bei meinem Heimkommen lange vergeblich unter Roberts Büchern gesucht hatte und das noch auf dem Esstisch in der Küche lag und gleich seine Aufmerksamkeit erregte. Mir war die Formulierung des Reverends nicht aus dem Kopf gegangen, es gebe immer mehr Menschen, die in den Wald gingen, und wenn mir die naheliegende Assoziation draußen am Fluss noch nicht gekommen war, hatte ich schon auf der Fahrt nach Hause an Thoreaus Walden gedacht, das Buch über sein Leben in den Wäldern, und dann ein bisschen darin herumgelesen, ohne jedoch wieder so gepackt zu sein wie beim ersten Mal. Ich hatte es nicht gleich gefunden, weil es nicht bei Roberts Büchern war, wo ich es vermutet hatte. Doch dann stellte ich fest, dass sogar sein Name darin stand, was eine Seltenheit war, und dass es auf etlichen Seiten Unterstreichungen gab, die wahrscheinlich von ihm stammten, und die bildeten die Grundlage für ein Spiel, von dem ich mich mehr und mehr mitreißen ließ.
    Denn Daniel hatte den Band zur Hand genommen und begonnen, die unterstrichenen Zeilen laut vorzulesen, und wenn er sich zuerst damit begnügt hatte, sie selbst zu kommentieren, verlangte er zusehends eine Einschätzung von mir. Er las ein oder zwei Sätze, und ich sollte »wahr« oder »falsch« sagen, er deklamierte in hohem Ton, und ich sollte den Daumen heben oder senken, zitierte ein paar Worte, die aus heutiger Sicht nur eine Absurdität waren, und es reichte mein Lachen, das mir aber immer öfter im Hals steckenblieb. Ich erinnere mich, dass ich bei der Stelle verstummte, an der es heißt, das Leben sei so kostbar, und ich weiß auch noch, dass ich nur nickte, als er mir das Programm präsentierte, in die Wälder zu gehen, wohlüberlegt zu leben und nur den wesentlichsten Dingen des Lebens gegenüberzustehen, um nicht in der Todesstunde innezuwerden, gar nicht gelebt zu haben. Es gab die Aufforderung, bloß nicht an der falschen Wirklichkeit zu scheitern, bei der er selbst still wurde, und was mir besonders gefiel, war der Gedanke, dass die Arbeit an Luftschlössern nicht umsonst sein müsse, weil Luftschlösser in die Luft gehörten und es nur darum gehe, die Fundamente darunter zu errichten.
    Ich mache mir nichts vor, es ist das einfachste, ein Buch, das die Frage nach dem richtigen Leben so direkt stellt wie sonst kaum eines, durch Ironie zu entschärfen, aber damit begann dieser Abend, auch wenn er dann ganz anders ausklang. Es war eine bewusste Entweihung, verbunden mit der Hoffnung, ihm dadurch seine Schwere zu nehmen, und doch trafen mich am Ende die schlichtesten Sätze wieder in ihrer ganzen Wucht. Wir waren in unserer Haltung schon umgeschwenkt und hatten aufgehört zu witzeln, als Daniel auf die Stelle stieß, an der vom Atlantik und Pazifik der eigenen Einsamkeit die Rede ist, und mir das Ausrufezeichen zeigte, das Robert daneben an den Rand gesetzt hatte, mindestens vier oder fünf Zentimeter lang. Daniel war um den Tisch herumgekommen, weil ich ihm nicht glaubte, und hielt mir die

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