Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Eine Ahnung vom Anfang

Titel: Eine Ahnung vom Anfang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Norbert Gstrein
Vom Netzwerk:
aufgeschlagene Seite hin, und ich starrte eine Weile darauf, ohne etwas zu sagen. Ich erinnere mich, dass ich den Atem anhielt, bevor ich aufstand, eine Flasche Wein öffnete und ihm zuprostete, aber ich kann mich nicht erinnern, ihm dabei über das Haar gestrichen und ihn »mein Bub« genannt zu haben, wie ich es später in seinem Manuskript las, in dem die Szene genau beschrieben ist.
    »Daniel, Daniel, mein Bub, mein lieber Bub.«
    Unmittelbar danach zitierte er jedenfalls die Stelle, an der es heißt, nur von dem Gipfel eines Berges von Büchern könnten wir selbst in den Himmel emporsteigen.
    »Wahr oder falsch«, sagte er. »Was hältst du davon?«
    Es war auch eine Anspielung auf unser Gespräch vom Vortag, bei dem ich ihm empfohlen hatte, die Bücher zu vergessen, lesen könne er später, lesen könne er, wenn er tot sei, und ich zuckte mit den Schultern. Ich hatte den Eindruck, er verzeihe mir das nicht, und als ich unüberlegt sagte, er solle nur einmal versuchen, alle Bände, die im Laufe seines Lebens für ihn Bedeutung gewinnen könnten, übereinanderzustapeln, und er komme bestenfalls auf die Höhe eines mittleren Hochhauses, von einem Wolkenkratzer gar nicht zu reden, sah er mich entgeistert an. Die Stimmung war dann viel weniger gelöst als bei seinem Eintreffen. Hatte er da auf mich nicht anders gewirkt als die vielen Male, die er bei mir zu Besuch gewesen war, schien sich jetzt etwas in ihm zu verkrampfen. Er fühlte sich nicht ernst genommen, und es hatte wohl auch damit zu tun, dass er mir zuerst auswich, als wir doch noch über den Reverend sprachen, und danach damit herausrückte, warum dessen Frau ihn zu Mittag so eilig zum Schweigen gebracht hatte. Er sagte, sie habe verhindern wollen, dass er wieder eine Brandrede hielt, wie er es in der Nacht davor getan habe, und als ich ihn fragte, ob es denn nicht genau das gewesen sei, schüttelte er den Kopf.
    »Du hast nur den Anfang mitbekommen und weißt nicht, welche Tiraden gefolgt sind«, sagte er. »Er hat gesagt, es gebe für jeden Menschen nur zwei Möglichkeiten, von denen man die eine besser nicht wählt.«
    Ich hatte nichts anderes erwartet und verstand seine Bedenken auch nicht, als er deutlicher wurde, entweder man sei dem Herrn nahe oder nicht, und wenn man ihm nicht nahe sei, sei man der Verdammnis preisgegeben.
    »Was soll daran besonders sein?«
    »Du weißt nicht, was er mit Verdammnis gemeint hat.«
    »Was soll er gemeint haben, wenn nicht die Hölle?«
    »Natürlich hat er die Hölle gemeint, aber er ist ein bisschen konkreter geworden, wie man dort hingelangt«, sagte er. »Er hat von der Anbetung des Mammons, von Homosexualität und Hurerei gesprochen.«

4
    Erst im nachhinein habe ich wirklich verstanden, dass es bei diesem Gespräch mit Daniel von Anfang an auch um Robert gegangen war, nicht nur wegen Thoreaus Walden und den von ihm unterstrichenen Passagen in dem Buch, sondern weil ich die ganze Zeit eine Frage stellen wollte, die ich aber erst beim Abschied stellte. Daniel stand an der Tür, als ich mich erkundigte, ob der Reverend die Geschichte mit meinem Bruder kenne. Nachgedacht hatte ich nicht, die Formulierung war mir unterlaufen, aber allein dadurch und durch die Tatsache, dass er zusammenschrak, wurde uns beiden im selben Augenblick klar, dass es mir unrecht wäre. Ich vermochte nicht einmal genau zu sagen, warum, aber ich bildete mir ein, ich müsse Robert vor dem Zugriff dieses Verrückten bewahren, müsse ihn davor schützen, dass er sich dazu verstieg, ihn in seine Gebete einzuschließen, wie es seine Art war, und Daniel tat alles andere, als mich zu beruhigen.
    »Der Reverend ist später mit seiner Frau und den beiden Mädchen weiter den Fluss hinuntergegangen«, sagte er. »Wir haben versucht, ihn davon abzuhalten, aber es war nichts zu machen.«
    Ich begriff zuerst nicht, was er damit sagen wollte.
    »Er ist weiter den Fluss hinuntergegangen?«
    Daniel nickte nur.
    »Aber nicht, um nach seiner Tochter zu suchen?«
    »Ehrlich gesagt, glaube ich, nein.«
    Aus irgendeinem Grund nickte er wieder, und ich hätte ihn gern daran gehindert, doch dann sah ich seinen gequälten Blick und dachte, dass es nicht seine Schuld war.
    »Er ist weiter den Fluss hinuntergegangen, aber nicht, um nach seiner Tochter zu suchen«, sagte ich, als wäre es mir immer noch unmöglich, auch nur das Elementarste zu begreifen. »Was in aller Welt hat er dann dort verloren gehabt?«
    Der plötzliche Riss in Daniels Gesicht war mir Antwort

Weitere Kostenlose Bücher