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Eine Ahnung vom Anfang

Titel: Eine Ahnung vom Anfang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Norbert Gstrein
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auf den Stapel anderer Blätter neben sich und beobachtete mich mit einer aufgesetzten Unbeteiligtheit, die nicht einmal etwas Provokantes hatte. Das Mädchen, das bei meinem Eintreten am Tisch in ein Heft schrieb, war natürlich die verschwundene Tochter. Sie räumte ihre Sachen zusammen und entfernte sich unaufgefordert, und die Frau, die an der Spüle lehnte, wusch eine Tasse aus, ließ lange Wasser darüber laufen und trocknete sich ausgiebig die Hände, während ich mich umsah und schließlich sagte, was mir als erstes in den Sinn kam.
    »Ihre Tochter ist ja wieder zurück.«
    Zwar hatte ich mich an den Reverend gewandt, aber der machte keine Anstalten, etwas zu sagen, und auch die Frau antwortete erst nach einer Pause, als wäre sie noch unentschieden, wie sie mit dem unwillkommenen Gast umgehen sollte. Doch im nächsten Augenblick bot sie mir schon einen Kaffee an, und vor ihrer Freundlichkeit verpuffte alles, was ich mir auf der Herfahrt zurechtgelegt hatte. Sie war sich jetzt ihrer Mission offenbar sicher und nahm mich von einer Sekunde auf die andere und buchstäblich wie auf Knopfdruck mit einer Fürsorglichkeit in den Blick, die mich erschreckte.
    »Sie hat sich in der Scheune versteckt«, sagte sie. »Als wir nach Hause gekommen sind, ist sie lesend in der Wiese gelegen.«
    Dabei schien sie genausowenig zu interessieren, was mit dem Mädchen war, wie es schon den Reverend am Tag davor nicht interessiert hatte, und sie wischte ihre Worte mit einer nicht einmal unwilligen, sondern nur leichten Handbewegung wie nebenbei weg.
    »Aber deswegen sind Sie ja nicht hier«, sagte sie. »Sie sind hier, um zu erfahren, was wir drunten am Fluss zu suchen gehabt haben.«
    Sie lachte und verstummte sofort wieder, als merkte sie, wie falsch es klang. Angespannt schien sie auf etwas zu lauschen, obwohl nichts zu hören war. Dabei drehte sie den Kopf nach dem Fenster hinter sich, und als sie sich wieder mir zuwandte, konnte ich in ihren Augen die Aufhellung von dem Licht noch sehen, das nur ganz kurz auf ihr Gesicht gefallen war.
    »Warum grämen Sie sich so?«
    Ich schwieg, behielt sie aber im Blick. Sie sprach englisch, doch mir kam es eher vor, als würde sie eine Sprache aus einer anderen Zeit sprechen. Es hätte aus einem mittelalterlichen Versepos stammen können, und ich wäre ein Ritter gewesen, der nach langer Irrfahrt nach Hause kam und vor der Lösung des Rätsels stand, das ihn um die ganze Welt getrieben hatte.
    »Sie müssen sich nicht grämen, es ist alles in Ordnung«, sagte sie. »Wir waren drunten am Fluss, um zu beten.«
    Dann zögerte sie, und ihre Stimme wurde ganz weich.
    »Es ist nichts, wovor Sie sich fürchten müssen.«
    Ich kann nicht sagen, warum ich aus ihrem Mund genau das einfach hinnahm, was ich dem Reverend eigentlich vorhalten wollte. Sie erzählte, dass das Hochwasser dort mehrere Baumstämme angeschwemmt und dass jemand ein Kreuz aufgestellt habe, und ich nickte nur. Ich nickte auch noch, als sie sagte, es sei ein schöner, friedlicher Ort, was mich bei jedem anderen dazu gebracht hätte, ihm ins Wort zu fallen, und mich bei ihr trotz seiner Durchschaubarkeit noch weiter beschwichtigte. Damit verließ sie ihren Platz an der Spüle und kam näher, und jetzt stand sie so nah, dass sie nur ihre Hand ausstrecken musste, um mich zu berühren. Sie forderte mich auf, mich zu setzen, und nachdem sie mir aus einer Thermoskanne Kaffee eingeschenkt und eine Weile über Belangloses gesprochen hatte, kam sie auf den Besuch am Fluss zurück.
    »Es sind phantastische Jungen, die Sie da haben«, sagte sie so leidenschaftslos, als hätte sie Angst, sonst unglaubwürdig zu wirken. »Sie sprechen voller Bewunderung von Ihnen.«
    Ich blickte ihr in die Augen, aber nichts, kein Anflug von Spott, kein ironisches Lächeln und schon gar keine Verachtung. Sie trug eine karrierte Hose und eine verwaschene Bluse, in deren Ausschnitt ich ihre deutlich vortretenden Schlüsselbeine sah, über denen die Haut spannte. Sie war nicht mehr als vierzig, wirkte jedoch jünger, und es schien kaum vorstellbar, dass sie ein Kopftuch anders als aus praktischen oder vielleicht modischen Gründen trug. Sie hatte ihre Hände ineinander verschränkt, schlanke Finger mit auffallend breiten Gelenken, schlanke Handfesseln und auffallend starke Ellbogen, und so wie sie reagierte, als ich meinen Blick darüber gleiten ließ, war ich natürlich nicht der erste, der das wahrnahm. Sie strich sich über ihre Handrücken, als wollte sie

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