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Eine Ahnung vom Anfang

Titel: Eine Ahnung vom Anfang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Norbert Gstrein
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seiner Frau verrieten nichts. Es gab einen Moment, in dem ich den Eindruck hatte, sie schreckten zusammen, aber wenn es so war, fassten sie sich sofort wieder und nahmen ihre unverändert gleichgültige Haltung an. Das war, als ich ihm ein Bier anbot und er eine Sekunde zögerte, bevor er sagte, von diesem Laster habe ihn der Herr befreit, und dann hinzufügte, es sei die Stunde seiner eigenen Rettung und Wiedergeburt gewesen, als er dem Alkohol abgeschworen habe. Er hatte den Jargon davor schon angeschlagen, aber es war das erste Mal, dass ich an den anderen eine Reaktion wahrzunehmen glaubte. Sonst waren diese Einsprengsel vor allem auch deswegen auffallend, weil es gleichzeitig offenbar kein technisches Detail des Bombers gab, das ihm nicht geläufig war, und es immer wieder passierte, dass er übergangslos zwischen dem einen und dem anderen hin- und herwechselte. So konnte er etwa in einem Augenblick von seiner Reichweite und Nutzlast schwärmen, mit genauen Entfernungs- und Gewichtsangaben, konnte die Art und Anzahl der Einsätze im Krieg herunterbeten und litaneiartig seine entscheidende Eigenschaft hervorheben, sich auch buchstäblich zu Schrott geschossen noch in der Luft halten zu können, wie er sagte, nur um im nächsten Augenblick einen Psalm zu zitieren oder, ohne Atem zu holen, vom Garten Eden auf Sodom und Gomorrha oder von Sodom und Gomorrha auf den Garten Eden zu sprechen zu kommen.
    Dennoch wäre das alles nur eine skurrile Episode geblieben, wenn er nicht noch einmal die Frage aufgeworfen hätte, was mich an den Fluss hinausgebracht habe. Seit unserem Gespräch in der Raststätte waren knapp zwei Wochen vergangen, aber er fragte diesmal anders, und ich sagte mir, dass er sich informiert hatte. Ich merkte sofort, er wollte von mir etwas hören, das ich ihm nicht bieten konnte, er wollte eine ideologische Begründung und vermochte sich nicht vorzustellen, dass ich keinem anderen Impuls folgte als dem, mir einen Ort zu schaffen, an dem ich ein paar Wochen für mich sein konnte. Vielleicht lag es daran, dass er Amerikaner war, vielleicht auch nur an seiner aufdringlichen Religiosität, aber ich versuchte ihn vergeblich zu bremsen, als er anfing, mir seine apokalyptischen Visionen aufzutischen.
    »Es gibt immer mehr Menschen, die in den Wald gehen, immer mehr, die sich aus der Welt zurückziehen, weil es nicht ihre Welt ist«, sagte er. »Sie überlassen sie ihrem Schicksal und hoffen auf ihr baldiges Ende, damit aus den Ruinen etwas Neues entstehen kann, oder das Alte noch einmal, wie vor aller Zeit und in jungfräulichem Zustand.«
    Dazu hatte er einen säuselnden Ton angeschlagen, und als er richtig loslegte, bestand kein Zweifel, das war sein Thema, eine Suada, die er hundertfach von sich gegeben haben dürfte, vielleicht nicht einmal von ihm selbst erdacht, vielleicht von einer Zentrale irgendwo im Mittleren Westen oder wo auch sonst immer, die ihn ausgeschickt hatte, um vor dem drohenden Inferno ein paar letzte Seelen zu retten. Vieles hätte ich ihm soufflieren können, war es doch nur das übliche Raunen vom Verfall der Sitten und dem Untergang des Abendlandes, aber am Ende blieben zwei oder drei Sätze, die mich aufhorchen ließen. Das begann damit, dass er sagte, wir befänden uns längst in einem neuen Weltkrieg und die Tragödie sei, dass nur wenige es merkten und die meisten mit ihrem Leben weitermachten, als könnten sie den Abgrund nicht sehen, vor dem sie standen, und träumten noch im freien Fall vom Fliegen.
    Zuerst dachte ich, er meine es nur im übertragenen Sinn, aber als er fortfuhr, der neue Weltkrieg sei der Krieg um Jerusalem, wurde mir klar, dass er sich dahinter auch ein handfestes Szenario ausmalte.
    »Es ist ein Krieg, der in jedem Augenblick und an jedem Ort der Welt geführt wird«, sagte er. »Daher muss jeder einzelne sich früher oder später entscheiden, auf welcher Seite er steht.«
    Dabei sah er mich an, als wäre er sich meiner nicht sicher und wollte die Dosierung abschätzen, die er mir zumuten konnte.
    »Waren Sie schon einmal in Jerusalem?«
    »Nein«, sagte ich. »Was sollte ich dort?«
    »Es ist einer der heiligsten Orte auf der Welt.«
    Vor Aufregung immer noch kurzatmig, schien er nicht nur jede Silbe, sondern jeden einzelnen Buchstaben zu betonen, und in seinen Augen stand jetzt schiere Angriffslust. Auf seine Stirn war wieder Schweiß getreten, und wenn er beim Sprechen die Arme hob, konnte man unter den Achseln dunkle Flecken sehen. Er gestikulierte mit

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