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Eine Ahnung vom Anfang

Titel: Eine Ahnung vom Anfang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Norbert Gstrein
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genug. Es gab jetzt kein Zurück mehr, und kaum dass ich ihn verabschiedet hatte, saß ich im Auto. Von meiner Wohnung in der Stadt bis zu dem Hof im Dorf, den der Reverend mit seiner Familie gemietet hatte, waren es vielleicht zwölf oder vierzehn Kilometer. Ich parkte hinter dem großen Kombi, ließ das Aufblendlicht und den Motor an und saß, beide Hände auf dem Lenkrad, regungslos da. Es war noch nicht Mitternacht, aber hinter keinem der Fenster brannte Licht, und ich glaubte unter dem unaufhörlichen Schnurren des Diesels die Geräusche der Nacht zu hören, als ich die Seitenscheibe herunterkurbelte, Laute, von denen ich als Kind gedacht hatte, sie stammten von außerweltlichen Wesen. Ich stieg aus, lehnte mich an den Kotflügel und rauchte in aller Ruhe eine Zigarette, und wenn jemand hinter einem Vorhang hervorspähte, musste er mich sehen, wie ich zum Haus hinüberschaute. Dann machte ich die paar Schritte auf den Gartenzaun zu und schwang mich darüber. Ich landete auf einem Plastikkübel, der unter meinen Füßen gegen die steinerne Einfriedung krachte, und als sich nach dem Lärm immer noch nichts rührte, war ich sicher, dass ich beobachtet wurde. Wieder blieb ich eine Weile demonstrativ stehen, keine zehn Meter von der Haustür entfernt. Es war vollkommen still, und als ich darauf zuging, nahm ich kaum wahr, wie unter meinen Schuhen der Kies knirschte. Unmittelbar vor mir huschte ein Schatten vorbei, wahrscheinlich eine Katze, und verschwand im Gebüsch. Ich zögerte, die Klinke in die Hand zu nehmen, und tat es dann nicht. Während ich das Gebäude umrundete, ließ ich meine Finger über die rauhe Mauer streichen, als wollte ich es damit in Besitz nehmen, und ich schlich an den niedrigen Fenstern entlang, bis ich an meinem Ausgangspunkt zurück war und mit klopfendem Herzen unter dem Sternenhimmel stand, der sich mit riesiger Geschwindigkeit von der Erde zu entfernen schien, wenn ich den Blick hob.
    Den Zustand kann ich nicht beschreiben, in dem ich mich befand, eine Art Trance, als stünde ich außerhalb des Menschengeschlechts, mit nur einem Nachtleben, das am Tag ins Nichts verfliegen würde, und einer dunklen Ahnung, einem hellen Schrecken, wozu ich imstande sein könnte, aber diese nächtliche Landnahme, oder wie immer man es nennen will, hatte damit zu tun, dass ich am Morgen darauf, als ich wieder vor dem Haus stand, nicht mehr zögerte. Ich hatte nur eine undeutliche Erinnerung, wie ich in der Nacht heimgekommen war, und ich hätte mir das Ganze genausogut auch eingebildet haben können, wäre nicht meine aufgekratzte Stirn von einem herunterhängenden Ast gewesen und hätte ich nicht vor der Haustür ein Buch vom Boden aufgelesen und mitgenommen, aber jetzt umfing mich das helle Licht des Tages, und es hätte nicht wirklicher sein können. Die beiden älteren Mädchen spielten zu dieser frühen Stunde schon Federball im Garten, als wären sie nur aufgeboten, um Normalität zu suggerieren, und hielten im Spiel inne, um zu beobachten, wie ich aus dem Auto stieg. Sie starrten mich an, als hätten sie mich erwartet, und ich ließ mir Zeit, bis sie das Spiel wiederaufnahmen, und ging unter ihren kräftigen Schlägen, die mich an das Zischen und Knallen von Peitschen erinnerten, auf den Eingang zu. Drinnen empfing mich eine feuchte, kalte Luft wie in einem unterirdischen Gewölbe, und ich musste mich erst an das flaschengrüne Licht gewöhnen, das durch zwei Fenster mit Butzenscheiben fiel. An der einen Wand stand eine Holztruhe mit Eisenbeschlägen, hinter der die Treppe, bespannt mit einem ehemals wohl roten, jetzt aber gelblich grauen Läufer, ins Nichts zu steigen schien, an der anderen entlang lief ein niedriges Regal aus Brettern und Ziegelsteinen, auf dem leere Flaschen gelagert waren. Von den vier Türen waren zwei ausgehängt und hing eine halb offen ein wenig schief in den Angeln. Ich warf nur jeweils einen schnellen Blick in die Räume, die offensichtlich nicht genützt wurden, zwei von ihnen bis auf den letzten Gegenstand ausgeräumt, der dritte dafür vollgestellt mit Gerümpel, und öffnete ohne anzuklopfen die geschlossene Tür, die in die Küche führte.
    Das Bedürfnis, den Reverend zur Rede zu stellen, verflog, sobald ich ihn sah. Er lag auf einer Couch, die, in auffällige Nähe zum Herd gerückt, beliebig verschiebbar war, wie ich später feststellte, weil sie aus Luftkissen bestand, und richtete sich nicht auf. Er faltete die Zeitung zusammen, die er in der Hand hielt, legte sie

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