Eine Ahnung vom Anfang
ihnen damit eine neue Form geben, und sah mit gespielter Verlegenheit an mir vorbei.
»Sie sagen, Sie sind anders als die anderen Lehrer.«
»Anders«, sagte ich. »Was soll das heißen?«
»Sie sagen, Sie machen ihnen nichts vor.«
Ich lachte, und sie erwiderte mein Lachen, als ich bemerkte, ganz so unschuldig sei ich vielleicht doch nicht, ein breites, volles Lachen in einem schmalen Gesicht mit kräftigen Knochen.
»Außerdem, was sollte ich ihnen schon vormachen?«
Sie brauchte nicht lange zu überlegen.
»Da gibt es einiges, was in Frage käme«, sagte sie. »Sie könnten beispielsweise so tun, als wüssten Sie, wie man lebt, und sich damit vielleicht zu wichtig nehmen.«
Es hätte ein Affront sein können, aber nichts deutete darauf hin, dass sie das beabsichtigte, eher schien es nur so dahergesagt, und es mag keinen anderen Grund gegeben haben als die paradoxe Besänftigung, die ich daraus zog, dass ich mich durch ihre Art zu sprechen an das lange Gespräch erinnert fühlte, das ich Jahre davor mit dem Direktor bei seinem Besuch in Istanbul gehabt hatte. Die anderen waren im Hotel geblieben, darauf erpicht, sich abzusondern, damit wir allein sein konnten, und wir nahmen eine Fähre, fuhren bis zur ersten Bosporus-Brücke und suchten uns dort in der Herbstsonne einen Platz mit Blick auf den weitgespannten Bogen über der Meerenge und dem mir an diesem Tag fast lautlos erscheinenden Dahinziehen des Verkehrs hoch über unseren Köpfen. Ich hatte ihm erzählt, dass ich Roberts Bücher las, wenn ich nachts nicht schlafen konnte, und er nahm mich ins Gebet, als hätte er nur auf die Gelegenheit gewartet.
»Natürlich musst du selber wissen, was du tust, aber es bringt doch nichts, wenn du dir damit den Kopf zermarterst«, sagte er. »Warum willst du die Wunde offenhalten?«
Was dann kam, habe ich wie eine Sprachübung in Erinnerung, und ich erkläre es mir heute so, dass er diese Form instinktiv wählte, weil ich für nichts anderes zugänglich war. Auf die Diagnose folgte die Absolution, auf seine Feststellung, ich fühlte mich an Roberts Tod schuldig, der Freispruch, ich müsse mich nicht schuldig fühlen, und das in einem halben Dutzend Variationen, als wollte er nur demonstrieren, wie leicht sich zu jedem Satz die Negation bilden ließe, selbst wenn das in der Realität nicht die geringste Auswirkung hätte. Schließlich fragte er mich, welche Bücher es denn seien, und als ich anfing, sie aufzuzählen, unterbrach er mich, mag sein, weil ihn meine Akribie nervös machte, womöglich aber auch weil er seine Abscheu vor soviel Kleingeisterei zum Ausdruck bringen wollte.
»Du glaubst doch nicht, sie waren der Grund.«
Vielleicht bildete ich es mir nur ein, aber ich meinte etwas wie Eifersucht in seiner Stimme zu hören, als wäre von lang verflossenen Geliebten die Rede, die er nie gehabt hatte.
»Manchmal denke ich, ja, manchmal denke ich, nein.«
Ich wusste, wie sehr ihn das aufbringen musste.
»Glaub mir, sie waren nicht der Grund«, sagte er, wie ich es erwartet hatte, und ließ sich nichts weiter anmerken. »Es bist nur du, der ihnen dieses Gewicht beimisst.«
Dann schwieg er, und ich schaute hinaus auf das Wasser, hinüber zum asiatischen Ufer, wo ich noch nie gewesen war, obwohl ich nur die Fähre von Karaköy nach Kadıköy hätte nehmen müssen, die den ganzen Tag verkehrte. Das schaffte ich erst viele Monate später, und wenn ich an die Stunden mit ihm denke, erscheint es mir wie ein Exzess, dass ich dann gleich die Bagdad-Bahn nahm und mit ihr bis ans damalige Ende der Strecke fuhr, bis an die syrische Grenze. An dem Tag konnte ich mir das nicht einmal vorstellen, weil er mich behandelte wie einen Kranken. Er hatte schon auf der Fähre ein Glas Tee nach dem anderen für mich gekauft, sooft der Kellner mit seinem Tablett an uns vorbeigekommen war, und mit derselben Aufmerksamkeit legte er mir jetzt seinen Schal um die Schultern und betrachtete zufrieden sein Werk.
»Ich bin sicher, dass du das hinbekommst«, sagte er. »Wenn du nur endlich mit dem nächtelangen Lesen aufhörst, bist du in ein paar Monaten wieder der alte.«
Die beiden Jahre in Istanbul waren in meiner Erinnerung immer eine finstere Zeit gewesen, will sagen, ich hatte es möglichst vermieden, mich daran zu erinnern, weil ich mir davon nichts Erbauliches erwartete, aber plötzlich kam mir der Gedanke, dass das vielleicht gar nicht stimmte. Ich musste nur an die Stunden denken, die ich lesend irgendwo verbracht hatte, und es
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