Eine Andere Welt
Welt«, sagte Ruth, nachdem sie sich geräuspert hae. »Allein.«
»Und man findet sich damit ab.«
»Weil einem keine andere Wahl bleibt. Du weinst, du weinst immer wieder, weil du niemals ganz von dort zurückkehrst, wohin du mit ihm gingst. Ein Stück deines pulsierenden, schlagenden Herzens ist noch dort, dir aus der Brust gerissen. Zurück bleibt eine Wunde, die nie ganz verheilt. Und wenn dir das im Leben immer wieder geschieht, und wenn schließlich zuviel von deinem Herzen herausgerissen ist, dann kannst du keine Trauer mehr empfinden. Und dann bist du selbst bereit zu sterben. Du steigst die unsichtbare Leiter empor, und ein anderer wird zurückbleiben und dich betrauern.«
»In meinem Herzen gibt es keine Wunden«, sagte Jason.
»Wenn du jetzt gehst«, sagte Ruth mit vor unterdrückter Erregung heiserer Stimme, doch sonst ungewöhnlich gefaßt, »wird es für mich so sein.«
»Ich werde bis morgen bleiben«, sagte er. Eher würden die Leute im Polizeilabor nicht entdecken, daß seine Ausweispapiere gefälscht waren.
Er fragte sich, ob Kathy ihn gereet oder zerstört habe; er wußte es wirklich nicht. Kathy, die ihn gebraucht hae, die mit ihren neunzehn Jahren mehr wußte als er und Ruth zusammen. Mehr als er und sie in der Gesamtheit ihrer Leben erfahren würden, bis hin zum Friedhof.
Wie die versierte Leiterin einer Therapiegruppe hae sie ihn auseinandergenommen – aber wozu? Um ihn wieder aufzubauen, stärker als zuvor? Er zweifelte daran, doch es blieb eine Möglichkeit, die nicht vergessen werden sollte. Er brachte Kathy ein seltsam zynisches Vertrauen entgegen, das zugleich vollkommen und nicht überzeugend war; eine Häle seines Verstandes sah sie als überaus verläßlich, und die andere sah sie als käuflich, gewissenlos und stümperha. Die beiden Vorstellungsbilder von Kathy blieben unvereinbar und existierten in seinem Denken nebeneinander.
Vielleicht werde ich ein klares Bild von Kathy gewinnen, wenn ich von hier fortgehe, dachte er. Aber warum schon morgen gehen? Vielleicht könnte er sogar einen Tag länger bleiben. Doch das wäre wohl eine Herausforderung des Glücks. Wie gut war die Polizei wirklich? Sie hae es fertiggebracht, seinen Namen falsch wiederzugeben und eine falsche Akte zu ziehen. War es nicht möglich, daß sie auf der ganzen Linie versagte? Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht.
Auch seine Vorstellungen von der Polizei waren widersprüchlich und nicht einfach aufzuklären. Und so, wie Emily Fusselmans Kaninchen, blieb er, wo er war und hoe, daß sich alle an die Spielregeln halten würden: man vernichtet kein Geschöpf, das nicht weiß, was es tun soll.
12
D
ie vier grauuniformierten Polizisten standen zusammengedrängt im maen Schein der Korridorbeleuchtung und steckten die Köpfe zusammen.
»Nur noch zwei übrig«, raunte der Anführer des Trupps und fuhr mit dem Finger über die Namensliste der Mieter. »Eine Mrs. Ruth Gomen in zweihundertelf und ein Allen Mufi in zweihundertzwölf. Welche nehmen wir uns zuerst vor?«
»Ich bin für diesen Mufi«, flüsterte einer seiner Leute; er ließ das freie Ende seines bleigefüllten Plastikschlagstocks auf der linken Handfläche tanzen, begierig, die Sache zu einem Ende zu bringen.
»Also zweihundertzwölf«, sagte der Anführer, steckte die Liste weg und suchte den Klingelknopf. Aber dann kam ihm der Gedanke, am Türknopf zu drehen.
Gewiß. Eine unwahrscheinliche Chance, aber plötzlich wahr. Die Tür war nicht abgeschlossen. Er signalisierte den anderen, still zu sein, grinste kurz und öffnete die Tür.
Nach Durchqueren der Diele blickten sie in einen dunklen Wohnraum. Leere und nahezu leere Gläser standen da und dort, einige am Boden. Die Lu war verbraucht und roch nach abgestandenem Rauch, und sie sahen mehrere von zerknüllten Zigareenpackungen, Asche und zerdrückten Stummeln überquellende Aschenbecher.
Eine Zigareenparty, sagte sich der Gruppenführer. Aber schon vorbei. Alle waren nach Haus gegangen, ausgenommen vielleicht Mr. Mufi.
Er betrat den Raum und schwenkte den Lichtkegel seiner Taschenlampe dahin und dorthin, um schließlich die Tür auf der anderen Seite des Zimmers zu beleuchten, die tiefer in die Wohnung führte. Kein Geräusch. Keine Bewegung. Nur das entfernte, dumpfe Gemurmel eines nicht genau zu ortenden Radioempfängers.
Er überquerte den Auslegeteppich, auf dem in Gold Richard M. Nixons Himmelfahrt abgebildet war, eingerahmt von freudig singenden Engelschören oben und Jammergeschrei unten.
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