Eine Andere Welt
du magst keine Tiere«, sagte Jason.
»Nicht mehr. Nicht nach so vielen Todesfällen. Wie das Kaninchen; als seine Zeit um war, starb es natürlich. Emily Fusselman weinte tagelang. Eine Woche. Ich sah, wie nahe es ihr ging, und scheute ähnliche Gefühlsbindungen.«
»Aber ganz auören, Tiere zu lieben, nur weil man ...«
»Ihre Leben sind so schrecklich kurz. Es geht so rasch dahin. Gut, manche Leute verlieren ein Geschöpf, das sie lieben, und dann gehen sie hin und übertragen diese Liebe auf ein anderes. Aber es tut weh; es tut weh.«
»Warum ist Liebe dann so gut?« Er hae während seines langen Erwachsenenlebens mit den vielen flüchtigen und tieferen Beziehungen o darüber nachgedacht. Auch jetzt dachte er darüber nach, bewegt von seinen jüngsten Erlebnissen und der Geschichte von Emily Fusselmans Kaninchen. »Du liebst Menschen, und sie gehen fort. Eines Tages kommen sie nach Haus und packen ihre Sachen, und du sagst: ›Was ist los?‹ und sie sagen: ›Ich habe anderswo ein besseres Angebot‹, und schon sind sie fort, für immer aus deinem Leben verschwunden, und du trägst von da an bis zu deinem Tod diesen großen Klumpen Liebe mit dir herum und hast niemanden, dem du ihn geben kannst. Und wenn du doch einen Menschen findest, geschieht das gleiche wieder. Oder du rufst sie eines Tages an und sagst: ›Hier ist Jason‹, und sie sagen: ›Wer?‹, und dann weißt du, was du ihnen bedeutest. Sie wissen nicht einmal mehr, wer du bist. Wahrscheinlich haben sie es nie wirklich gewußt; du haest sie nie.«
»Liebe bedeutet nicht, eine andere Person zu haben, als ob sie ein Gegenstand wäre, den man in einem Schaufenster sieht«, sagte Ruth. »Das ist nur Verlangen. Man will es um sich haben, mit nach Haus nehmen und irgendwo in der Wohnung aufstellen, wie eine Lampe.« Sie dachte nach. »Liebe ist ... ja, Liebe ist wie ein Vater, der seine Kinder aus einem brennenden Haus reet, der sie herausholt und selbst dabei zugrunde geht. Wenn du liebst, hörst du auf, für dich selbst zu leben; du lebst für einen anderen Menschen.«
»Und das ist gut?« Ihm kam es nicht so gut vor.
»Es überwindet den Instinkt. Die Instinkte drängen uns, um das Überleben zu kämpfen. Um unser eigenes Überleben auf Kosten anderer: jeder versucht mit Fußtrien, Ellbogen und Krallen höher hinaufzukommen. Ich kann dir ein gutes Beispiel nennen, einen meiner Ehemänner, Frank. Wir waren sechs Monate verheiratet. Während dieser Zeit hörte er auf, mich zu lieben und wurde schrecklich unglücklich. Ich liebte ihn immer noch; ich wollte mit ihm zusammenbleiben, aber es schadete ihm. Also ließ ich ihn gehen. Verstehst du? Es war besser für ihn, und weil ich ihn liebte, war es das, was zählte. Siehst du?«
»Aber warum soll es gut sein, gegen den Überlebensinstinkt anzugehen?« fragte Jason.
»Du glaubst, ich häe darauf keine Antwort.«
Er nickte.
»Weil der Überlebensinstinkt schließlich den kürzeren zieht. Bei jedem Lebewesen, Maulwurf, Fledermaus, Mensch, Frosch. Selbst bei Fröschen, die Zigarren rauchen und Schach spielen. Du kannst nie erreichen, was dein Überlebensinstinkt sich vornimmt, denn schließlich enden deine Anstrengungen im Versagen und du erliegst dem Tod, und das ist das Ende vom Lied. Aber wenn du liebst, kannst du vergehen und ...«
»Ich bin noch nicht bereit, zu vergehen«, versicherte Jason.
»Wenn du liebst, kannst du vergehen und mit Glück und ruhiger Zufriedenheit das Weiterleben jener betrachten, die du liebst.«
»Aber sie sterben auch.«
»Das ist wahr.« Ruth benagte ihre Unterlippe.
»Es ist besser, nicht zu lieben, dann kann einem das alles nie passieren. Nicht mal ein Haustier, ob Hund oder Katze. Wie du sagtest – man liebt sie, und sie gehen zugrunde. Wenn der Tod eines Kaninchens schlimm ist ...« Er hae plötzlich eine grauenhae Vision: die zermalmten Knochen und das blutverschmierte Haar eines Mädchens, das in den Kiefern eines undeutlich sichtbaren riesigen Ungeheuers steckte.
»Aber du kannst trauern«, sagte Ruth beinahe beschwörend. »Jason! Trauer ist das mächtigste Gefühl, das ein Mensch oder ein Tier jemals empfinden kann. Es ist ein gutes Gefühl.«
»In welcher Weise?« fragte er rauh.
»Die Trauer um einen Toten veranlaßt dich, dein eigenes Ich zu verlassen. Du trist aus deiner engen kleinen Haut heraus. Aber du kannst keine Trauer empfinden, wenn du nicht vorher Liebe empfunden hast – Trauer ist das letzte Ergebnis der Liebe, denn sie ist verlorene Liebe. Du verstehst
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